26. Wie verarbeiten Menschen mit vermeidendem Bindungsstil eine Trennung?
Einleitung
Eine Trennung bedeutet für jeden Menschen Stress und Schmerz – doch für Personen mit vermeidendem Bindungsstil (auch bekannt als Bindungsangst) verläuft die Verarbeitung oft besonders widersprüchlich und komplex. Diese Menschen fürchten zwar Nähe in einer Beziehung, erleben aber das Ende der Beziehung keineswegs „kalt und gefühllos“. Im Gegenteil: Innerlich können tiefe Unsicherheiten,
Leere-Gefühle und Ängste auftreten, selbst wenn sie nach außen hin gefasst wirken.
Für Außenstehende – sei es der/die Ex-Partner*in oder Freunde – wirkt das Verhalten von Bindungsängstlern nach einer Trennung daher oft paradox. Dieses Wechselbad der Gefühle und Reaktionen nachvollziehbar zu machen, ist das Ziel dieses Beitrags.
Im Folgenden erklären wir allgemein verständlich, wie Menschen mit einem vermeidend-unsicheren Bindungsstil eine Trennung verarbeiten. Zunächst wird erläutert, was einen vermeidenden Bindungsstil ausmacht und wo seine Ursachen in der Bindungstheorie liegen.
Danach schauen wir uns die typischen inneren Gefühle und Gedanken an, die bei Bindungsängstlern nach einer Trennung auftreten,
sowie die äußeren Verhaltensweisen, die häufig zu beobachten sind. Anschauliche Beispiele und Analogien helfen,
die innere Dynamik besser zu verstehen. Schließlich geben wir konkrete Ratschläge – sowohl für Bindungsängstliche selbst als auch für deren Partner oder Ex-Partner – um den Trennungsschmerz besser zu bewältigen und daraus zu lernen. Eine zusammenfassende Reflexion am Ende bietet einen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse.
Vermeidender Bindungsstil verstehen: Ursachen und Merkmale
Warum reagieren manche Menschen in Beziehungen und bei Trennungen so auf Abstand? Die Antwort liefert die Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth. Sie zeigt, dass unser Bindungsstil in frühen Kindheitserfahrungen verwurzelt ist.
Vermeidende Bindungstypen – auch als unsicher-vermeidender Bindungsstil oder umgangssprachlich Bindungsangst bezeichnet –
entstehen häufig, wenn ein Kind die Bezugspersonen als unzuverlässig erlebt hat. Das Kind verinnerlicht die Überzeugung
„Auf andere Menschen ist kein Verlass“. Aus Selbstschutz lernt es, emotional unabhängig zu werden und nicht auf die Hilfe anderer zu vertrauen.
Dieses früh gelernte Muster prägt das Beziehungserleben im Erwachsenenalter maßgeblich.
Typisch für Vermeidende ist ein negatives Bild von der Verlässlichkeit anderer, während sie sich selbst als eigenständig und stark sehen.
Ihre innere Haltung lässt sich plakativ so zusammenfassen: „Ich brauche niemanden.“ Sie haben ihr Bindungssystem gewissermaßen deaktiviert, um sich vor Verletzungen zu schützen. Nähe wird als potentiell bedrohlich empfunden, da sie Abhängigkeit und Verletzbarkeit bedeuten könnte. Gefühle zeigen fällt diesen Menschen schwer – sie haben in der Kindheit oft erlebt, dass auf ihre Bedürfnisse und Emotionen nicht angemessen reagiert wurde. Die Botschaft, die sie damals verinnerlicht haben: Emotionen lohnen sich nicht, Schwäche wird nicht unterstützt. Infolgedessen unterdrücken Vermeidende als Erwachsene häufig ihre Gefühle und wahren Distanz, auch wenn sie sich eigentlich nach Bindung sehnen.
Diese widersprüchliche Dynamik zeigt sich besonders deutlich in Liebesbeziehungen. Solange alles unverbindlich bleibt, fühlen sich Bindungsängstliche relativ wohl. Doch sobald eine Partnerschaft enger und ernster wird, ziehen sie sich zurück. Sie betonen ihre Unabhängigkeit, halten Partner auf Abstand und lassen nur begrenzt Intimität zu. Oft setzen sie klare Grenzen –
etwa gemeinsame Zukunftspläne vermeiden oder wichtige Lebensbereiche (Familie, Freunde) nicht einbeziehen. Konflikte oder klärende Gespräche meiden sie; Probleme werden lieber mit sich alleine ausgemach. Im Extremfall führt diese innere Alarmreaktion dazu,
dass der Bindungsängstliche die Beziehung sabotiert oder sogar selbst beendet, um der als übermächtig empfundenen Nähe zu entkommen.
Beispiel: Anna und Tom sind ein Paar seit einem Jahr. Tom hat einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil. Immer wenn Anna über Zusammenziehen oder Zukunftspläne redet, reagiert Tom abweisend. Er fühlt sich eingeengt, zieht sich häufiger zu seinen Hobbys zurück und verbringt weniger Zeit mit Anna. Anna wird dadurch noch unsicherer und sucht erst recht das Gespräch – was Tom weiter unter Druck setzt. Schliesslich beendet Tom die Beziehung abrupt mit der Begründung, er brauche „mehr Freiraum“ und „passe nicht zu Anna“. Hier zeigt sich der typische Teufelskreis: Je mehr Anna Nähe suchte, desto mehr wich Tom aus – ein klassisches Muster in einer ängstlich-vermeidenden Konstellation. Obwohl Tom Gefühle für Anna hatte, gewann seine Bindungsangst die Oberhand.
Doch was passiert nun nach der Trennung mit ihm?
Innere Reaktionen eines Bindungsängstlichen nach der Trennung
Unmittelbar während und direkt nach der Trennung scheint der bindungsängstliche Part erstaunlich ruhig. Viele Betroffene berichten sogar von einer Art Erleichterung in dem Moment, in dem die Beziehung endet. Diese Gefühlslage ist jedoch oft oberflächlich und kurzzeitig:
Die Erleichterung entsteht, weil der akute Nähe-Stress wegfällt. Tom aus unserem Beispiel fühlte sich zunächst bestätigt – „Es ist besser so“, denkt er sich. Er rationalisiert die Trennung als richtige Entscheidung, um sich seinen aufkommenden Schmerz nicht eingestehen zu müssen. Typische Gedanken in der akuten Trennungsphase bei einem Bindungsängstlichen sind zum Beispiel:
„Das war die richtige Entscheidung.“ – Die Entscheidung wird vor sich selbst gerechtfertigt, um Zweifel und Trauer zu unterdrücken.
„Ich fühle nichts – es war wohl nicht die große Liebe.“ – Eine emotionale Blockade legt sich über die echten Gefühle, sodass Betroffene glauben, kaum Schmerz zu empfinden.
„Endlich bin ich wieder frei und kann mich auf mich konzentrieren.“ – Durch Flucht in Gedanken an neue Freiheiten wird vermieden, sich mit der Trauer auseinanderzusetzen.
Innerlich laufen jedoch bei vielen vermeidenden Personen unbewusst starke emotionale Prozesse ab. Psychologische Studien stützen diese Beobachtung: Personen mit stark vermeidendem Bindungsstil zeigen nach einer Trennung im Schnitt weniger offensichtliche Anzeichen von Kummer und geringere Nähe-senkende Reaktionen (z.B. vermissen oder um den Ex-Partner kämpfen). Stattdessen nutzen sie eher selbstständige Bewältigungsstrategien, um mit dem Verlust umzugehen. Das heißt nicht, dass sie keinen Schmerz empfinden –
sie verdrängen ihn nur effektiv. Oft wird der Kummer gleichsam "auf Eis gelegt".
Nach einigen Tagen oder Wochen dominiert im Inneren eines Bindungsängstlichen meist die Vermeidungsstrategie: Alles, was an die Beziehung erinnert, wird mental ausgeblendet. In dieser Phase spüren viele Betroffene scheinbar wenig Trauer oder Sehnsucht. Doch dieses innere Gleichgewicht ist fragil. Früher oder später brechen die unterdrückten Gefühle hervor – häufig verzögert, unerwartet und ausgelöst durch besondere Umstände. So kann es einige Wochen oder sogar Monate nach der Trennung plötzlich zu einer emotionalen Krise kommen, beispielsweise wenn der Bindungsängstliche längere Zeit alleine ist oder erfährt, dass die/der Ex einen neuen Partner hat.
In Toms Fall passiert genau das: Als er eines Tages zufällig hört, dass Anna wieder jemanden datet,
durchzuckt ihn ein schmerzhaftes Gefühl von Verlust.
Typische innere Empfindungen in dieser späten Phase sind:
Leere und Einsamkeit: Was zunächst als Befreiung erschien, wandelt sich in das quälende Gefühl innerer Leere. Viele Bindungsängstliche fragen sich überrascht: „Warum fühle ich mich jetzt so leer?“ – Dieser Gefühl der inneren Einsamkeit ist die Folge der langen emotionalen Vermeidung. Weil echte Nähe und Verletzlichkeit vermieden wurden, fehlt nun etwas Essentielles, was vorher – trotz aller Ängste – die Beziehung gegeben hat.
Zweifel und Reue: Es tauchen Gedanken auf wie „Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht“. Der Entschluss zur Trennung wird im Nachhinein in Frage gestellt. In Toms Kopf spielen plötzlich die schönen Momente mit Anna eine übergroße Rolle, während die negativen Aspekte der Beziehung verblassen. Diese Idealisierung der Ex-Partnerschaft („Ich vermisse die guten Zeiten“) geht mit Selbstzweifeln einher: Habe ich vorschnell aufgegeben?
Wunsch nach Verbundenheit bei gleichzeitiger Angst: Ein Teil in den Betroffenen sehnt sich jetzt doch wieder nach Nähe – etwa Gedanken wie „Ich will mich wieder verlieben“ treten auf – doch zugleich fühlen sie sich blockiert und „es fühlt sich nicht richtig an“, sich erneut auf jemanden einzulasse. Hier kollidiert das Bindungsbedürfnis mit der fortbestehenden Bindungsangst.
Zusammengefasst verläuft der innere Prozess bei einem vermeidenden Bindungsstil nach einer Trennung oft zweistufig: Zuerst eine Phase scheinbarer emotionaler Ruhe durch Verdrängung, dann (verzögert) eine Phase aufbrechender, intensiver Gefühle von
Verlust, Einsamkeit und Zweife. Wichtig ist, dass diese Gefühle zwar verspätet kommen, aber dennoch real und tiefgehend sind. Der Bindungsängstliche trauert auf Raten – manchmal wenn der/die Ex längst begonnen hat abzuschließen.
Äußere Verhaltensweisen nach der Trennung
Die inneren Vorgänge spiegeln sich auch in charakteristischen äußeren Verhaltensweisen wider. Direkt nach der Trennung wirken viele Bindungsängstliche überraschend gefasst, distanziert oder kühl. Sie zeigen wenig Emotion, sprechen sachlich oder gleichgültig über das Beziehungsende. Im Beispiel war Tom bei der Trennung zu Anna nahezu emotionslos und erklärte nüchtern, es sei besser so. Dieses Auftreten kann für den verlassenen Partner sehr verletzend sein – es vermittelt den Eindruck, als ginge der Abschied spurlos vorüber. Allerdings ist diese Gefasstheit meist eine Fassade (oft sogar vor den Betroffenen selbst): Sie resultiert aus der strategischen Unterdrückung von Gefühlen, die Teil ihres Bindungsmusters ist.
Nach außen hin zeigen Menschen mit vermeidendem Bindungsstil nach einer Trennung häufig folgendes Verhalten:
Flucht in Aktivität und Ablenkung: Anstatt den Trennungsschmerz zu verarbeiten, stürzen sich Bindungsängstliche oft sofort in Arbeit, Hobbys oder einen hektischen Alltag. Sie sind „ständig auf Achse“, treffen Freunde, betreiben exzessiv Sport oder tauchen in neue Projekte ein. Diese Ablenkungsstrategie dient dazu, nicht zur Ruhe kommen zu müssen – denn in stillen Momenten würden die verdrängten Emotionen anklopfen. Tom etwa beginnt nach der Trennung, fast jeden Abend zu verplanen: Fitnessstudio, Wochenendtrips, zusätzliche Projekte im Job. Für Außenstehende wirkt er „busy und glücklich“, was allerdings täuscht.
Oberflächliche soziale Kontakte oder Dating: Manche Bindungsängstliche suchen kurz nach einer Trennung unverbindliche neue Bekanntschaften – sei es durch Dating-Apps oder Flirts – allerdings ohne echte Bindungsabsicht. Es geht ihnen weniger darum, eine neue Liebe zu finden, als darum, Bestätigung zu erhalten und sich abzulenken. Diese neuen Kontakte bleiben meist oberflächlich, weil der Betroffene echte Verletzlichkeit weiterhin vermeidet.
Keine sichtbare Trauer, kein Reden über Gefühle: Vermeidende neigen dazu, ihren Schmerz nicht offen zu zeigen. Sie suchen selten Trost oder Hilfe bei Freunden, da dies ihrem Selbstbild als Unabhängiger widerspricht. Stattdessen präsentieren sie sich möglichst stark und unberührt von der Trennung. So wird man Tom nicht weinend auf dem Sofa antreffen; vielmehr würde er betonen, es gehe ihm „super“. Über die Gründe der Trennung oder seine Gefühle dabei spricht er kaum – entweder blockt er das Thema ab oder bleibt sehr rational. Dieses Verhalten kann dazu führen, dass keine echte Aufarbeitung stattfindet, da er sich nicht mit den Trennungsgründen und eigenen Anteilen auseinandersetzt. Oft fehlt dem Bindungsängstlichen die Selbstreflexion: Die Beziehung wird abgehakt, ohne Lehren daraus zu ziehen. Das verhindert zunächst unangenehme Emotionen, birgt aber die Gefahr, dieselben Muster in der nächsten Beziehung zu wiederholen.
Nach einigen Wochen bis Monaten – wenn die oben beschriebene innere zweite Phase einsetzt – kann sich auch das äußere Verhalten noch einmal ändern. Plötzlich auftauchende Emotionen wie Sehnsucht oder Reue können den Bindungsängstlichen zu unerwarteten Handlungen treiben. Nicht selten idealisieren sie nun die verflossene Beziehung und suchen erneut Kontakt zum Ex-Partner. Tom beginnt z.B. nach zwei Monaten Funkstille, wieder Annas Social-Media-Profile zu besuchen und meldet sich schließlich mit einer unverbindlichen Nachricht. Dieses Phänomen wird in Ratgebern auch als „Gummiband-Effekt“ bezeichnet: Hat sich das „Band“ nach der Trennung ausreichend ausgedehnt – sprich, hat der Bindungsängstliche genug Distanz und Freiheit gespürt – schnellt es irgendwann zurück und das Vermissen setzt ein. Weil nun wieder Bindungsbedürfnisse Raum bekommen, meldet sich derjenige plötzlich bei der/dem Ex. Häufig geschieht das genau dann, wenn die andere Seite beginnt, die Trennung zu akzeptieren. So war es auch bei Anna und Tom: Gerade als Anna langsam über Tom hinwegkommt, steht er wieder vor ihrer Tür voller Reue.
Wichtig zu wissen: Diese Wiederannäherung bedeutet nicht automatisch ein dauerhaftes Umdenken. Tatsächlich kommt es vor, dass Bindungsängstliche nach vorübergehender Rückkehr erneut auf Distanz gehen, sobald wieder Nähe entsteht. In unserem Beispiel könnte Tom nach kurzer Versöhnung schnell merken, dass seine alten Ängste zurückkehren – und sich wieder verschließen oder die Beziehung abermals beenden. So entsteht eine On/Off-Dynamik, in der sich Trennung und Versöhnung abwechseln. Solche Muster sind anstrengend und schmerzhaft für beide Seiten. Sie zeigen, dass ohne echte innere Aufarbeitung die Bindungsangst immer wieder die Oberhand gewinnt.
Beispiel (Fortsetzung): Tom und Anna kommen tatsächlich noch einmal zusammen, nachdem Tom sie zurückgewonnen hat. Die ersten Wochen sind schön – Tom zeigt sich aufmerksam und versichert Anna, wie sehr er sie vermisst habe. Doch als Anna bald wieder Verbindlichkeit einfordert (sie möchte z.B. gemeinsam in Urlaub fahren und Toms Familie besuchen), spürt Tom erneut dieses beklemmende Gefühl. Er beginnt, Ausreden zu finden, um Treffen zu vermeiden, und stürzt sich wieder in Arbeit. Nach einigen Monaten trennt er sich ein zweites Mal von Anna, mit einer vagen Begründung. Für Anna ist dieses Hin und Her traumatisch. Dieses Beispiel verdeutlicht: Ohne Änderung der inneren Muster wiederholt sich das Verhalten des Bindungsängstlichen nach Trennungen in ähnlicher Form immer wieder.
Warum reagieren Vermeidende so? – Bindungstheoretische Hintergründe
Die beschriebenen Reaktionen haben ihren Ursprung in den tief verankerten Glaubenssätzen und Ängsten von Bindungsängstlichen. Aus Sicht der Bindungstheorie liegen die Ursachen vor allem in zwei Bereichen: Angst vor dem Verlassenwerden und Angst vor dem Verschlungenwerden.
Menschen mit vermeidendem Bindungsstil haben in der Regel – wie oben erwähnt – gelernt, dass sie auf andere nicht zählen können. Häufig steckt dahinter die Angst, verlassen oder enttäuscht zu werden, falls man sich zu sehr auf jemanden einlässt. Besonders bei der Unterform des ängstlich-vermeidenden Bindungsstils (auch fearful avoidant genannt) ist diese Furcht stark ausgeprägt: Diese Personen haben ein negatives Bild von sich selbst („ich bin nicht liebenswert“) und von anderen, was dazu führt, dass sie zwar Sehnsucht nach Nähe haben, diese aber aus Angst vor Zurückweisung meiden. Eine Trennung erleben sie dann als Bestätigung ihrer Erwartung, irgendwann ohnehin verlassen zu werden – auch wenn sie sie vielleicht selbst initiiert haben. Innerlich kämpft hier das Bedürfnis nach Bindung mit dem Bedürfnis nach Selbstschutz.
Bei der anderen Unterform, dem gleichgültig-vermeidenden Bindungsstil (oft auch dismissive avoidant genannt), überwiegt ein positives Selbstbild und ein starkes Autonomiebedürfnis. Diese Menschen verleugnen ihr Bindungsbedürfnis so gut es geht und behaupten von sich, alleine glücklicher zu sein. Emotionale Nähe wird als etwas betrachtet, das man „nicht braucht“. Entsprechend reagieren sie auf Trennung zunächst mit Erleichterung und Abwehr von Schwäche – sie wollen sich keinesfalls abhängig oder verletzt zeigen. Das Muster „Ich brauche niemanden“ ist hier besonders ausgeprägt. Allerdings können auch gleichgültig-vermeidende Personen die emotionale Auswirkung einer Trennung nicht ewig negieren; auch bei ihnen kann später Einsamkeit aufkommen, nur würden sie das ungern zugeben.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Strategie der Gefühlsregulation, die Vermeidende früh entwickelt haben. Schon als Kind hat der später Bindungsängstliche gelernt: Wenn ich Kummer zeige oder Klammer, stoße ich auf Ablehnung bzw. ich bekomme nicht die gewünschte Zuwendung. Folglich hat das Kind begonnen, seine Emotionen herunterzuregulieren – das heißt, gar nicht erst groß aufkommen zu lassen. Dieses Muster wird ins Erwachsenenalter übertragen: Bei Stress in Beziehungen (z.B. Konflikten oder drohender zu großer Nähe) reagieren Vermeidende mit Deaktivierung des Bindungssystems – sie spalten ihre Bindungsgefühle ab, wirken kühl und distanziert. Sie vermeiden also im wahrsten Sinne des Wortes Situationen, die alte Verletzungen triggern könnten. Trennungssituationen sind nun ein doppelter Trigger: Einerseits könnten sie Verlustängste wecken (die aber sofort wegrationalisiert werden), andererseits bietet die Trennung eine Lösung aus dem Nähe-Dilemma. Deshalb empfinden Vermeidende den Moment der Trennung oft als Kontrollgewinn – sie haben die belastende Nähe-Situation beendet, bevor sie selbst verletzt werden konnten.
Die Kehrseite dieses Verhaltens ist jedoch, dass echte Trauerarbeit zunächst ausbleibt. Die Psyche des Bindungsängstlichen schützt sich kurzfristig durch Verleugnung und Verdrängung, aber langfristig bleibt der Trennungsschmerz unverarbeitet im Hintergrund bestehen. Das erklärt, warum viele vermeidende Personen später von unerwarteten intensiven Gefühlen eingeholt werden. Bindungsforscher wie Guy Bodenmann bestätigen, dass unsicher gebundene Menschen nach einer Trennung oft länger verletzt bleiben, weil ihr Selbstwert stärker erschüttert wird und sie Konflikte mit dem/der Ex mit sich herumtragen. Bei Bindungsängstlichen manifestiert sich dieser anhaltende Konflikt allerdings nicht in offenen Gefühlsausbrüchen, sondern eher in einer inneren Unruhe und Unzufriedenheit, die sie in nächste Beziehungen mitnehmen – es sei denn, sie setzen sich aktiv mit ihren Mustern auseinander.
Kurz gesagt: Vermeidende reagieren auf Trennung so, wie sie es in Beziehungen generell tun – mit Rückzug, Abwehr und Selbstschutz. Die Wurzeln liegen in frühen Bindungserfahrungen, die geprägt haben, dass Nähe gefährlich sein könnte. Dieses Wissen um die Ursachen kann bereits helfen, das Verhalten eines Bindungsängstlichen nach der Trennung nicht als „Herzlosigkeit“ zu missdeuten, sondern als Schutzstrategie einer verletzlichen Person.
Tipps für Bindungsängstliche: Trennungsschmerz gesund bewältigen
Eine Trennung kann für jemanden mit Bindungsangst eine Chance sein, die eigenen Muster besser kennenzulernen und daran zu arbeiten. Auch wenn es schwerfällt: Nur indem man sich den verdrängten Gefühlen stellt, kann man langfristig wachsen. Wenn Sie selbst einen vermeidenden Bindungsstil haben und eine Trennung durchleben, könnten Ihnen folgende Ratschläge helfen:
Gefühle zulassen statt verdrängen: Erlauben Sie sich, traurig, wütend oder enttäuscht zu sein. Auch wenn es ungewohnt ist – versuchen Sie, die Emotionen bewusst wahrzunehmen, anstatt sie sofort wegzuschieben. Schreiben Sie z.B. Ihre Gedanken auf oder sprechen Sie mit einer Vertrauensperson. Der Schmerz mag anfangs überwältigend wirken, aber er wird weniger, wenn man ihn wirklich fühlt. Nur so verarbeiten Sie die Trennung wirklich, statt den Kummer einzufrieren.
Die eigenen Bindungsängste reflektieren: Fragen Sie sich ehrlich, warum Ihnen die Nähe in der Beziehung Angst gemacht hat. Welche negativen Erwartungen oder Glaubenssätze (z.B. „ich werde sowieso verlassen“ oder „ich darf keine Schwäche zeigen“) haben Ihr Verhalten gesteuert? Diese Erkenntnis ist wichtig, um beim nächsten Mal anders handeln zu können. Eventuell entdecken Sie Parallelen zu Ihrer Kindheit – das kann schmerzhaft sein, ist aber ein Schlüssel zum Verständnis.
Keine impulsiven Kontaktaufnahmen aus Unsicherheit: In Momenten von Einsamkeit fühlen Sie sich vielleicht versucht, den/die Ex-Partner*in wieder zu kontaktieren – sei es, um sich zu vergewissern, dass noch jemand da ist, oder um Schuldgefühle zu lindern. Überlegen Sie gut, ob das wirklich fair und sinnvoll ist. Kontakt zum/ zur Ex nur zur eigenen Beruhigung zu suchen, verzögert oft die Heilung – für beide Seiten. Machen Sie sich klar, dass dieses Gefühl der Unsicherheit aus Ihrer Bindungsangst rührt und lernen Sie, es auszuhalten, ohne sofortige Rückversicherung bei der ehemals vertrauten Person zu suchen.
Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen: Der Schritt, sich mit der eigenen Bindungsproblematik auseinanderzusetzen, ist nicht leicht. Therapeutische Unterstützung kann enorm helfen, tief verwurzelte Ängste zu erkennen und zu bewältigen. Ein/e Therapeut*in oder Coach kann Ihnen Techniken zeigen, wie Sie mit Gefühlen umgehen und alte Glaubenssätze langsam verändern. Bindungsstile sind nämlich nicht in Stein gemeißelt – mit neuen Erfahrungen und bewusster Arbeit an sich selbst können sich Muster verändern. Eine Therapie oder ein Coaching bietet einen geschützten Rahmen, um an Ihrem Bindungsverhalten zu arbeiten, damit zukünftige Beziehungen erfüllender verlaufen.
Geduld mit sich selbst: Veränderungen passieren nicht über Nacht. Sie haben viele Jahre nach dem alten Muster gelebt. Seien Sie also nicht entmutigt, wenn Sie nicht sofort „frei von Bindungsangst“ sind. Jeder kleine Schritt – sei es, einem Freund von Ihrem Kummer zu erzählen oder bewusst Zeit mit sich allein auszuhalten ohne Ablenkung – ist ein Fortschritt. Feiern Sie diese Schritte.
Indem Sie diese Ratschläge beherzigen, nutzen Sie die Trennung als Lernchance. Das Ziel ist nicht, die Beziehung unbedingt rückgängig zu machen, sondern sich selbst besser kennenzulernen. Langfristig können Bindungsängstliche, die an sich arbeiten, deutlich gesündere Beziehungen führen und ihr emotionales Wohlbefinden steigern. Jede verarbeitete Trennung kann dabei helfen, künftig nicht mehr vor Nähe davonlaufen zu müssen.
Tipps für Partner und Ex-Partner: Besser umgehen mit dem bindungsängstlichen Verhalten
Nicht nur die Bindungsängstlichen selbst, sondern auch ihre (Ex-)Partner stehen vor großen Herausforderungen. Wenn man verlassen wurde oder eine schwierige Beziehung mit einem Vermeidenden erlebt hat, ist man oft verletzt, verwirrt und sucht nach Erklärungen. Hier sind einige Ratschläge, um besser mit der Situation umzugehen und daraus zu lernen:
Nehmen Sie das Verhalten nicht persönlich: So paradox es klingt – das distanzierte Verhalten Ihres bindungsängstlichen Partners/Ihrer Partnerin richtet sich meist nicht gegen Sie als Person, sondern entspringt seinem/ihrem eigenen inneren Konflikt. Bindungsängstliche brauchen viel Freiraum und haben Schwierigkeiten, Nähe auszuhalten. Wenn Ihr/e Partner*in also Rückzugstendenzen zeigte oder nach der Trennung sehr kühl wirkt, heißt das nicht, dass Sie unwichtig oder unliebenswert wären. Versuchen Sie, es im Kontext seines/ihres Bindungsstils zu sehen, statt es ausschließlich auf sich selbst zu beziehen.
Respektieren Sie das Bedürfnis nach Abstand: So schwer es fallen mag – Drängen oder Betteln um eine Wiederannäherung ist bei einem Bindungsängstlichen meist kontraproduktiv. Druck erzeugt Gegendruck: Wenn Sie jetzt klammern oder ständig Kontakt suchen, fühlt sich der/die Ex in der Freiheit beschnitten und bestätigt nur seine/ihre Ängste. Geben Sie stattdessen Raum. Eine Kontaktsperre direkt nach der Trennung kann beiden Seiten helfen, sich zu sortieren. Tatsächlich erhöhen Sie paradoxerweise die Chance, dass ein bindungsängstlicher Ex-Partner Sie vermisst und von sich aus wieder annähert, wenn Sie ihm/ihr zunächst Abstand gewähren. Dieses Prinzip entspricht dem oben genannten Gummiband-Effekt. Natürlich sollte Ihr Fokus aber nicht (nur) darauf liegen, den- oder diejenige zurückzugewinnen, sondern vor allem darauf, Ihre eigene Würde und Stabilität zu bewahren.
Bleiben Sie nicht in der „Retter-Rolle“ hängen: Viele Partner von Bindungsängstlichen haben das Gefühl, sie müssten den anderen von seiner Angst „heilen“. Sie versuchen alles, um zu beweisen, dass sie verlässlich sind, und stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Doch Vorsicht: Sie können die Bindungsangst des anderen nicht einfach weglieben oder therapieren. Wenn Sie zu sehr in die Rolle des Helfers rutschen, verlieren Sie auf Dauer sich selbst. Machen Sie sich bewusst: Der bindungsängstliche Partner muss selbst bereit sein, an sich zu arbeiten – Sie können das nicht erzwingen. Unterstützen ja, aber achten Sie auch auf Ihre Grenzen. Sprechen Sie an, wenn Sie sich unfair behandelt fühlen, und ziehen Sie Konsequenzen, wenn Ihre grundlegenden Beziehungsbedürfnisse dauerhaft frustriert bleiben.
Fokus auf Selbstfürsorge und eigenes Leben: Eine Beziehung oder Trennung mit einem Bindungsängstlichen kann emotional auslaugend sein. Umso wichtiger ist es, dass Sie gut für sich selbst sorgen. Kümmern Sie sich um Ihr eigenes soziales Netz, pflegen Sie Hobbys, tun Sie sich etwas Gutes. Das hilft nicht nur, den Schmerz zu lindern, sondern setzt auch ein wichtiges Zeichen – für Sie und ggf. den Ex-Partner: Ihr Lebensglück hängt nicht vollständig von dieser einen Person ab. Sollten Sie zu den eher ängstlich-ambivalent Gebundenen gehören (viele Partner von Vermeidenden haben diesen anderen unsicheren Stil), achten Sie besonders darauf, nicht in Selbstaufgabe zu verfallen. Zwei unsicher gebundene Menschen – einer mit Angst vor Nähe, einer mit Angst vor Verlust – können sich gegenseitig stark triggern. Daher ist es für Sie essenziell, Ihr Selbstwertgefühl zu stärken und gegebenenfalls eigene Verlustängste zu bearbeiten.
Kommunikation und Geduld, falls es zu einem Neuanfang kommt: Mitunter kehren Bindungsängstliche nach einiger Zeit zurück und wollen es doch noch einmal versuchen (Stichwort Gummiband-Effekt). Wenn Sie sich darauf einlassen, gehen Sie es langsam an. Sprechen Sie offen über das, was schiefgelaufen ist, und was sich ändern muss. Idealerweise sollte der Bindungsängstliche Bereitschaft zeigen, an seinen Themen zu arbeiten (z.B. vielleicht Therapie oder Paarberatung). Bauen Sie Vertrauen schrittweise wieder auf und vermeiden Sie anfänglichen Überdruck. Trotzdem: Behalten Sie realistisch im Auge, ob sich tatsächlich etwas verändert oder ob sich das alte Muster wiederholt. Ihr eigenes Wohlergehen sollte oberste Priorität haben.
Abschließend ist es für Partner oder Ex-Partner wichtig zu entscheiden, wie viel sie bereit sind zu investieren. Nicht jede Beziehung muss oder sollte um jeden Preis fortgeführt werden. Sie dürfen für sich abwägen, ob eine mögliche On/Off-Beziehung auf Dauer Ihnen guttut. Manchmal ist Loslassen die gesündere Entscheidung – gerade wenn der/die Bindungsängstliche keinerlei Einsicht oder Änderungswillen zeigt. Andererseits kann Verständnis für die Bindungsangst und Geduld – in Kombination mit klaren Grenzen – tatsächlich zu einer Annäherung führen, wenn beide Seiten daran arbeiten.
Zusammenfassung und Reflexion
Trennungen mit Beteiligung eines bindungsängstlichen Menschen verlaufen oft paradox und emotional herausfordernd. Während der Bindungsängstliche sich in der Beziehung eingeengt und überfordert fühlte, tritt nach der Trennung nicht selten ein Gefühl der Leere und Einsamkeit auf. Dieses scheinbare Wechselspiel – erst Freiheitsdrang, dann verspäteter Schmerz – ergibt sich aus dem bindungstheoretischen Hintergrund: Unterdrückte Emotionen und der instinktive Selbstschutz führen dazu, dass die Trennungsverarbeitung zeitverzögert stattfindet. Für Partner wirkt das Verhalten des Bindungsängstlichen oft widersprüchlich und verletzend, insbesondere wenn er/sie zunächst kalt erscheint und später doch wieder Nähe sucht.
Der Schlüssel zum Verständnis liegt darin, zu erkennen, dass hinter dem vermeidenden Verhalten Angst und verletzte Bindungsbedürfnisse stehen – keine Böswilligkeit. Menschen mit vermeidendem Bindungsstil haben früh gelernt, auf sich gestellt zu überleben, und müssen oft erst (wieder) lernen, Nähe zuzulassen und Konflikte auszuhalten. Eine Trennung kann dabei ein Weckruf sein: Wer bereit ist, sich seinen Mustern zu stellen, kann die Krise nutzen, um persönlich zu wachsen. Bindungsängstliche haben – mit Geduld und ggf. Unterstützung – die Möglichkeit, aus alten Schutzmechanismen auszubrechen und sich langfristig emotional reifer auf Beziehungen einzulassen.
Auch für die (Ex-)Partner bietet das Verständnis dieser Dynamik eine Form von Entlastung: Es wird klar, dass das Verhalten des Gegenübers kein einfacher Liebesmangel war, sondern tiefsitzende Ängste dahinterstanden. Mit diesem Wissen können Ex-Partner den Trennungsschmerz besser einordnen, Selbstvorwürfe reduzieren und gestärkt aus der Erfahrung hervorgehen. Einige entscheiden sich, dem Bindungsängstlichen mit neuem Verständnis noch eine Chance zu geben – andere sehen ein, dass sie einen Partner brauchen, der ihre Nähe erwidern kann. Beide Wege sind legitim; wichtig ist die Selbstreflexion daraus.
Abschließend lässt sich sagen: Eine Trennung von einem Bindungsängstlichen ist zwar oft verwirrend und schmerzlich, doch sie liefert auch wertvolle Erkenntnisse über Bindungsverhalten und Beziehungsmuster. Indem beide Seiten – Bindungsängstliche und ihre Partner – bewusst aus der Erfahrung lernen, öffnen sich Chancen für gesündere Beziehungen in der Zukunft. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Bindungsgeschichte, das Zulassen von Gefühlen und das Entwickeln neuer Verhaltensweisen sind dabei entscheidende Schritte. So kann aus dem Ende einer schwierigen Beziehung letztlich persönliches Wachstum und die Grundlage für erfüllendere Bindungen entstehen.
Quellen: Fachartikel, psychologische Ratgeber und Studien zum Thema Bindungsstile, Bindungsangst und Trennungsverarbeitung, u.a.
Markus Hirndorf: Vermeidender Bindungsstil – Bindungsangst und Trennung der-vermeidende-bindungsstil.de,
Szenario Zwei Coaching-Team: Vermeidender Bindungstyp – Leitfadenszenario-zwei.comszenario-zwei.com,
psychologische Forschung zu Bindungsstilen und Bewältigungsstrategienadultattachment.faculty.ucdavis.edu,
sowie Spektrum der Wissenschaft (2021) zum Nähe-Distanz-Problem