Der Unterschied zwischen unsicher-vermeidender und ängstlich-vermeidender Bindung

Einführung

Fühlst du dich in Beziehungen hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis nach Abstand? Oder liebst du jemanden, der mal ganz nah bei dir sein will und sich kurz darauf wieder zurückzieht? Viele von uns kennen das Nähe-Distanz-Spiel in Beziehungen. Hinter solch widersprüchlichem Verhalten verbergen sich oft bestimmte Bindungsstile, die wir in der Kindheit entwickelt haben. In diesem Blogbeitrag richten wir den Blick auf zwei spezielle unsichere Bindungsmuster: den unsicher-vermeidenden Bindungsstil und den ängstlich-vermeidenden Bindungsstil. Beide gehören zu den vermeidenden Bindungsstilen – das heißt, beide Betroffene neigen dazu, intime Nähe zu vermeiden, allerdings aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Verhaltensweisen.

Wichtig: Dieser Beitrag soll vor allem Gefühle und persönliche Erfahrungen ansprechen. Wenn du dich in einem der beschriebenen Muster wiedererkennst, bist du nicht allein. Und wenn dein Partner oder eine nahestehende Person vermeidende Tendenzen hat, kann ein besseres Verständnis dieser Bindungsstile helfen, ihr Verhalten nicht persönlich zu nehmen. Wir gehen nachfolgend kurz auf die Grundlagen der Bindungstheorie ein (wirklich nur ganz kurz!) und schauen uns dann die Hauptmerkmale, Ursachen und Beziehungsdynamiken der beiden Bindungsstile genauer an – emotional und greifbar, mit Beispielen aus dem Alltag. Am Ende fassen wir alle wichtigen Links und Quellen zusammen, damit du sie in Ruhe nachlesen kannst.

Kurzer Überblick: Bindungstheorie und Bindungsstile

Psychologen unterscheiden grob zwischen sicheren und unsicheren Bindungsstilen. Unser Bindungsstil formt sich in den frühen Lebensjahren durch die Erfahrungen mit unseren Bezugspersonen. Wurden unsere Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit als Kind verlässlich erfüllt, entwickeln wir meist einen sicheren Bindungsstil. Gab es dagegen Zurückweisung, Vernachlässigung oder chaotische Verhältnisse, können unsichere Bindungsmuster entstehen. Zu den unsicheren Bindungsstilen gehören insbesondere:

  • Unsicher-vermeidender Bindungsstil – oft auch vermeidender oder abweisend-vermeidender Stil genannt. Im Englischen spricht man vom dismissing-avoidant attachment. Diese Menschen betonen Unabhängigkeit und distanzieren sich emotional, meist aus Angst vor Zurückweisung.

  • Unsicher-ambivalenter Bindungsstil – oft ängstlicher oder klammernder Stil genannt (engl. anxious-preoccupied). Personen mit diesem Muster haben große Verlustängste, klammern und suchen ständig Bestätigung, aus Furcht, nicht genug geliebt zu werden.

  • Unsicher-desorganisierter Bindungsstil – auch ängstlich-vermeidend genannt (engl. fearful-avoidant). Dieses Muster ist eine Mischung aus Angst und Vermeidung: Betroffene sehnen sich nach Nähe, empfinden sie aber gleichzeitig als bedrohlich, was zu einem inneren Konflikt und stark wechselhaftem Verhalten führt.

Manchmal werden die Begriffe in der Literatur unterschiedlich verwendet. Gelegentlich liest man sogar, ängstlich-vermeidend sei nur ein anderes Wort für unsicher-vermeidend. Für diesen Blogbeitrag ist jedoch wichtig: Wir unterscheiden klar zwischen dem unsicher-vermeidenden und dem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil. Beide gehören zwar zu den unsicher-vermeidenden (also emotional distanzierten) Mustern, doch beim ängstlich-vermeidenden Stil kommt zusätzlich eine starke innere Angst und Ambivalenz ins Spiel, weshalb man ihn oft mit desorganisiert bezeichnet.

Merk dir: Unsicher-vermeidend (häufig: „abweisend-vermeidend“) bedeutet Gefühle eher abspalten und Nähe dauerhaft auf Distanz halten.

Ängstlich-vermeidend (häufig: „desorganisiert“) bedeutet Gefühle widersprüchlich erleben – Nähe wird gesucht und gefürchtet, was einen ständigen Wechsel zwischen Annäherung und Rückzug erzeugt.

Soviel zur Theorie – mehr müssen wir an Grundlagen gar nicht wissen, um in die Praxis einzutauchen. Schauen wir uns nun die beiden Bindungsstile im Detail an.

Unsicher-vermeidender Bindungsstil

Ein Mensch mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil fühlt sich in der Freiheit und Unabhängigkeit oft am sichersten.
Nähe zu anderen wird unbewusst als potenzielle Gefahr für die Autonomie empfunden.

Der unsicher-vermeidende Bindungsstil ist geprägt von einem tief verwurzelten Schutzmechanismus: Vermeidung von zu viel Nähe. Menschen mit diesem Bindungsmuster wurden in ihrer Kindheit oft emotional zurückgewiesen oder allein gelassen. Nähe bedeutet für sie instinktiv Gefahr – die Gefahr, verletzt oder abgelehnt zu werden. Daher verinnerlichen sie Glaubenssätze wie „Ich darf mich nicht abhängig machen“ oder „Wenn ich mich öffne, werde ich zurückgestoßen“. Die Strategie: Gefühle möglichst nicht zeigen, Bedürfnisse herunterspielen und auf Distanz bleiben, um gar nicht erst verletzt werden zu können.

Hauptmerkmale des unsicher-vermeidenden Stils

Typisch für unsicher-vermeidende Personen ist ein Verhalten, das von außen betrachtet oft kühl, unabhängig und unnahbar wirkt. Hier die wichtigsten Merkmale im Überblick:

  • Vermeidung von Intimität: Tiefe Gespräche, emotionale Offenheit oder Aussagen wie „Ich liebe dich“ fallen enorm schwer. Nähe und Verbindlichkeit lösen inneren Stress aus, denn insgeheim glauben unsicher-vermeidende Menschen, dass ihre Gefühle früher oder später sowieso abgelehnt werden. Sie fragen sich ständig, ob sie dem Gegenüber wirklich vertrauen können – und bleiben lieber auf Abstand.

  • Starkes Bedürfnis nach Autonomie: Freiheit und Selbstbestimmung sind für diesen Bindungsstil oberstes Gebot. Die Betroffenen fürchten unbewusst, in einer Beziehung ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Sätze wie „Wenn ich mich zu sehr einlasse, verliere ich mich selbst“ oder „Ich brauche niemanden, um glücklich zu sein“ bestimmen ihr Denken. Autonomie gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit, während zu viel Nähe als Einengung erlebt wird.

  • Emotionales Understatement: Unsicher-vermeidende Partner wirken oft nicht sehr einfühlsam oder interessiert – zumindest empfinden das ihre Gegenüber so. Sie halten Gefühle im Zaum und vermeiden tiefe emotionale Gespräche. Das wird von anderen schnell als Desinteresse oder Egoismus fehlinterpretiert. In Wahrheit sind sie nicht gefühlskalt; sie haben nur gelernt, Gefühle zu verbergen, um sich zu schützen.

  • Wenig Konfliktbereitschaft & Commitment-Probleme: Sobald eine Beziehung Arbeit bedeutet – sprich, Konflikte, Kompromisse oder langfristige Planung erfordert – geraten unsicher-vermeidende Menschen in Zweifel. Sie neigen dazu, Beziehungen bei aufkommenden Schwierigkeiten innerlich zu kündigen, statt sich den Problemen zu stellen. Tief im Inneren rechnen sie ohnehin oft damit, dass die Liebe nicht hält. Im Zweifel wählen sie die Flucht (Trennung) als Ausweg, bevor sie selbst verletzt werden könnten.

  • Ausweichverhalten in der Liebe: Körperliche Nähe trennen sie gerne von emotionaler Nähe. Nicht wenige unsicher-vermeidende Personen neigen zu unverbindlichen Affären oder One-Night-Stands, weil diese Intimität ohne emotionale Verletzlichkeit versprechen. Auch hintergehen manche ihren Partner (emotional oder sexuell), jedoch nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sie echte Nähe als belastend empfinden und sich nach Leichtigkeit ohne Verpflichtung sehnen.

  • Chronische Unzufriedenheit in Beziehungen: Da sie sich nie vollständig auf den Partner einlassen, erleben unsicher-vermeidende Bindungstypen oft weniger Höhen – dafür aber auch weniger Tiefen – in Beziehungen. Viele berichten von einer latenten Unzufriedenheit, innerer Leere oder Langeweile, selbst wenn eigentlich alles „okay“ ist. Ihnen fehlen die Glücksmomente intensiver Verbundenheit, weil sie diese gar nicht zulassen können. Gleichzeitig bestätigen die eher flachen Gefühle ihren Glauben, dass etwas in der Beziehung nicht stimmt – ein Teufelskreis.

Natürlich zeigen sich diese Merkmale bei jedem Menschen anders und in unterschiedlicher Ausprägung. Doch insgesamt lautet das Motto des unsicher-vermeidenden Bindungsstils:
„Nur keine Schwäche zeigen – Nähe macht verletzlich, Distanz hält mich sicher.“

Ursachen: Wie entsteht unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten?

Wie kommt es, dass ein Mensch so sehr auf Distanz geht? Die Wurzeln liegen meist in der frühen Kindheit, in den Prägungen der Eltern-Kind-Beziehung. Ein unsicher-vermeidendes Kind hat gelernt: “Auf meine Bezugsperson kann ich mich nicht verlassen.“ Das kann verschiedene Hintergründe haben:

  • Emotionale Vernachlässigung: Vielleicht war da niemand, der sich verlässlich gekümmert hat, wenn das Kind Trost oder Hilfe brauchte. Eltern oder Erzieher waren emotional nicht verfügbar, distanziert oder mit sich selbst beschäftigt. Das Kind musste lernen, alleine zurechtzukommen. Die bittere Schlussfolgerung lautet: „Meine Bedürfnisse interessieren niemanden. Gefühle zu zeigen bringt nichts.“

  • Zurückweisung und Abweisung: In manchen Fällen wurden Kinder aktiv zurückgestoßen, wenn sie Nähe suchten. Etwa ein Elternteil, der das Kind schroff in sein Zimmer schickte, wenn es weinte, oder der Liebe nur an Bedingungen knüpfte. Die Erfahrung häufiger Zurückweisung prägt das innere Arbeitsmodell: „Wenn ich mich anpasse oder nichts brauche, werde ich nicht verletzt. Aber wenn ich zeige, dass ich dich brauche, lässt du mich fallen.“

  • Übermäßige Kontrolle oder Vereinnahmung: Manchmal entsteht Vermeidungsverhalten auch, wenn Grenzen nicht respektiert wurden – etwa durch überbehütende Eltern, die das Kind keinen Freiraum ließen, oder durch vereinnahmende Bezugspersonen, die das Kind mit ihren eigenen Stimmungen „überschwemmten“. So paradoxe es klingt: Auch ein zuviel an Nähe (ohne Respekt vor den Bedürfnissen des Kindes) kann dazu führen, dass das Kind lernt, auf Abstand zu gehen, um sich selbst zu behaupten. Es fühlt sich dann schnell eingeengt und sucht als Erwachsener Reflex-artig die Flucht, sobald jemand emotional zu nah kommt.

All diesen Erfahrungen ist gemeinsam, dass das Kind gewisse Glaubenssätze abgespeichert hat, um zu überleben. Typische innere Überzeugungen unsicher-vermeidender Menschen sind beispielsweise:

  • „Jeder ist für sich selbst verantwortlich – ich darf nichts von anderen erwarten.“

  • „Wenn ich meine Gefühle zeige, werde ich abgelehnt oder lächerlich gemacht.“

  • „Menschen, die mich lieben, verletzen oder verlassen mich irgendwann sowieso.“

  • „Auf Nähe folgt immer Schmerz, also halte ich lieber Abstand.“ (unausgesprochen, aber tief verankert)

  • „Ich muss stark und autonom sein; Schwäche oder Bedürftigkeit darf ich mir nicht erlauben.“

Solche Überzeugungen laufen meist unbewusst ab, steuern aber das Beziehungsverhalten enorm. Das Kind von damals schützt sich damit vor Enttäuschungen – doch der Erwachsene im Heute zahlt dafür einen Preis: echte Nähe und Geborgenheit bleiben außerhalb der Komfortzone.

Beziehungsdynamik: Wie verhalten sich unsicher-vermeidende Personen in der Partnerschaft?

In einer Partnerschaft zeigt sich der unsicher-vermeidende Stil oft in einem recht konstanten Muster: Der Betroffene hält emotionalen Abstand, egal wie sehr er den Partner eigentlich liebt. Nähe dosiert er in kleinen Häppchen, gefolgt von Rückzug. Dieses Verhalten kann für Partner extrem verletzend und verwirrend sein. Schauen wir uns ein typisches Szenario an:

Fallbeispiel: „Ich brauche Abstand!“

Laura (30) ist seit einem Jahr mit Jonas (32) zusammen. Anfangs erschien Jonas sehr unabhängig und „cool“ – genau das fand Laura anziehend. Er war kein Mann der großen Worte, aber charmant und erfolgreich im Beruf. Nach etwa sechs Monaten Beziehung bemerkt Laura, dass Jonas immer öfter Zeit für sich fordert. Wenn sie ein Wochenende planen will, blockt er ab. Auf ihre liebevolle Frage „Was fühlst du eigentlich für mich?“ reagiert er ausweichend oder wird nervös. Eines Tages sagt Jonas einen gemeinsamen Kurzurlaub kurzfristig ab mit der Begründung, er brauche „Zeit für sich“. Laura ist verletzt und versteht die Welt nicht mehr.

In Jonas’ Innerem spielt sich Folgendes ab: Er liebt Laura, aber je intensiver die Beziehung wurde, desto mehr spürt er ein beängstigendes Gefühl von Enge. Unbewusst tauchen Gedanken auf wie: „Sie verlangt mir immer mehr ab – was ist mit meiner Freiheit?“ oder „Vielleicht passt das doch nicht mit uns. Früher, als ich Single war, war alles leichter…“. Diese sogenannten deaktivierenden Gedanken sind Jonas’ Weg, sich emotional zu distanzieren, sobald er sich kontrolliert oder eingeengt fühlt. Er idealisiert in solchen Momenten das Single-Leben oder eine Ex-Partnerschaft, nur um dem Druck der aktuellen Nähe zu entkommen.

Laura versucht währenddessen, Jonas näherzukommen und das Problem anzusprechen. Doch sobald sie fragt „Liebst du mich denn noch?“, löst das in Jonas noch mehr Stress aus. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Statt ehrlich zu sagen, dass er gerade Angst vor zu viel Nähe hat, reagiert er mit Schweigen oder einem genervten „Du bildest dir was ein, alles ist okay.“ Innerlich hat er sich jedoch schon halb aus der Beziehung verabschiedet. Er vermeidet offene Gespräche, fährt seine Gefühle herunter und flüchtet vielleicht in Arbeit, Hobbys oder Chats mit anderen, um sich weniger verpflichtet zu fühlen. Laura spürt diese emotionale Abwesenheit und wird noch verzweifelter, was Jonas schließlich als „Bedürftigkeit“ vorwirft: „Du klammerst viel zu sehr, lass mich doch einfach mal in Ruhe!“.

Dieses Beispiel zeigt die typische Dynamik: Der unsicher-vermeidende Part zieht sich zurück, der andere fühlt sich zurückgewiesen und reagiert vielleicht mit noch mehr Nähebedürfnis oder Vorwürfen, was wiederum den Vermeidenden in die Flucht treibt – ein Teufelskreis. Letztlich haben Menschen wie Jonas enorme Angst, verletzt zu werden oder die Kontrolle zu verlieren, also kontrollieren sie die Distanz. Sie glauben, nur in sicherer Distanz die Beziehung ertragen zu können, weil echte Nähe alte Ängste wachruft.

Für ihre Partner bedeutet das: viel Unsicherheit, Selbstzweifel („Warum lässt er mich nicht an sich ran? Liegt es an mir?“) und das schmerzliche Gefühl, nie wirklich nahe sein zu dürfen. Laura etwa zweifelt langsam an sich: Bin ich zu anspruchsvoll? Liebe ich einfach jemanden, der keine tiefe Bindung eingehen kann?* – Eine schwere Situation, die ohne Verständnis für Jonas’ Bindungsstil schnell zu Frustration auf beiden Seiten führt.

Innere Erlebniswelt: Was fühlt der „Vermeidende“ wirklich?

Trotz ihres distanzierten Auftretens fühlen unsicher-vermeidend gebundene Menschen natürlich auch Sehnsucht – sie haben nur gelernt, diese zu unterdrücken. Oft sind sie innerlich hin- und hergerissen: Ein Teil von ihnen wünscht sich Liebe, ein anderer Teil hält Liebe für gefährlich. Dieses Dilemma wird aber selten offen gezeigt. Viele Betroffene sagen Sätze wie „Mir fehlt irgendwie etwas in der Beziehung“ oder „Ich bin nicht glücklich, ohne genau zu wissen warum.“ Sie können ihre Gefühle schwer greifen, weil sie früh gelernt haben, diese abzuschalten.

Manchmal offenbaren unsicher-vermeidende Personen erst in Therapie oder in einem Moment großen Vertrauens, was wirklich in ihnen vorgeht. Dann kommen Aussagen zutage wie: „Tief drinnen glaube ich, keine Liebe zu verdienen.“ Oder: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich solche Angst, abhängig zu werden, dass ich lieber allein bleibe – auch wenn ich mich dann einsam fühle.“ Diese verletzlichen Gefühle bleiben normalerweise hinter einer Mauer aus Schweigen und vermeintlicher Gleichgültigkeit verborgen. Nach außen erscheint Jonas im Beispiel vielleicht hart oder egoistisch, innen drin steckt aber ein verängstigtes Kind, das sich einst schwor: „Nie wieder lasse ich jemanden so nah an mich heran, dass er mich verletzen kann.“

Ängstlich-vermeidender Bindungsstil

Der ängstlich-vermeidende Bindungsstil ist geprägt von Angst und Widersprüchlichkeit. Tiefe Verletzungen aus der Vergangenheit führen dazu, dass Nähe sowohl ersehnt als auch gefürchtet wird – ein innerer Konflikt, der Beziehungen zu einer emotionalen Achterbahnfahrt machen kann.

Wenn du beim unsicher-vermeidenden Stil dachtest „puh, das klingt schon kompliziert“, dann halte dich fest: Der ängstlich-vermeidende Bindungsstil (auch unsicher-desorganisiert genannt) setzt dem Ganzen noch eins drauf. Menschen mit diesem Muster erleben in intimen Beziehungen mit Abstand das meiste Chaos – für sich selbst und für ihre Partner. Warum? Weil zwei extreme Pole in ihnen am Werk sind: ein verzweifeltes Bedürfnis nach Nähe und gleichzeitig eine panische Angst vor echter Bindung. Diese widersprüchlichen inneren Kräfte führen dazu, dass ängstlich-vermeidende Personen sich wie in einem emotionalen Tornado verhalten: mal warm, mal kalt; mal himmelhochjauchzend verliebt, dann plötzlich abweisend und misstrauisch.

Die Psyche dieses Bindungstyps wurde meist durch frühe Traumata oder extreme Verunsicherung geprägt. Oft liegen Missbrauch, Gewalt oder stark inkonsistente Erfahrungen in der Kindheit zugrunde. Das innere Kind hat nie gelernt, dass Beziehungen sicher und verlässlich sind – im Gegenteil, es hat Botschaften verinnerlicht wie: „Die Welt ist gefährlich, ich kann niemandem trauen“ oder „Ich bin wertlos und werde sowieso verlassen“. Dennoch sehnt sich dieses Kind (bzw. der Erwachsene heute) nach Liebe. Diese Gleichzeitigkeit von Sehnsucht und Furcht sorgt für anhaltende innere Konflikte und ambivalentes Verhalten.

Hauptmerkmale des ängstlich-vermeidenden Stils

Der ängstlich-vermeidende Bindungsstil vereint Aspekte von Angst und Vermeidung. Das zeigt sich in einem äußerst ambivalenten Verhalten – oft unberechenbar für Außenstehende. Hier sind zentrale Merkmale:

  • Starkes Verlangen nach Nähe – und genauso starke Angst davor: Betroffene wünschen sich tief im Herzen Zugehörigkeit und Nähe zu einem geliebten Menschen. Gleichzeitig fühlen sie sich von Intimität schnell bedroht und überwältigt. Dieses Paradox führt dazu, dass sie Nähe suchen, aber, sobald sie entsteht, reflexartig wieder auf Abstand gehen. Man spricht vom Annäherungs-Rückzugs-Zyklus: Immer wieder nähern sie sich dem Partner an (oft in Phasen intensiver Verliebtheit oder Leidenschaft), nur um dann – getriggert durch irgendeine Unsicherheit – wieder davonzulaufen oder den Partner wegzustoßen.

  • Extremes Misstrauen und Verlustangst: Menschen mit ängstlich-vermeidendem Muster vertrauen weder sich selbst noch anderen wirklich. Im Hinterkopf lauert stets die Überzeugung „Gleich werde ich betrogen oder im Stich gelassen.“ Sie sind daher ständig auf der Hut. Selbst harmlose Situationen können als möglicher Vertrauensbruch interpretiert werden. Gleichzeitig haben sie oft intensive Verlustängste – die Vorstellung, verlassen zu werden, ist unerträglich. Dieses fatale Duo (Misstrauen + Verlustangst) führt zu Verhaltensweisen wie Eifersucht, Kontrolle oder “Tests“ gegenüber dem Partner (z.B. absichtliches Evozieren von Eifersucht, um zu schauen, ob der Partner bleibt).

  • Hohe emotionale Reaktivität: Wird ihre verletzliche Seite getriggert – z.B. durch das Gefühl, der Partner könnte lügen oder sich zurückziehen – reagieren ängstlich-vermeidende Personen oft sehr heftig, impulsiv und scheinbar „überzogen“. Die Emotionen schlagen dann von Null auf Hundert: Eben war alles gut, dann macht eine Kleinigkeit sie wütend, panisch oder zutiefst traurig. Diese starken Gefühlsausbrüche wirken für andere unverhältnismäßig, sind aber Ausdruck der alten Ängste, die plötzlich hochkochen. Eine kleine Verzögerung in der Antwortzeit einer Nachricht kann beispielsweise bereits tiefe Verunsicherung und einen Gefühlssturm auslösen.

  • Schwankendes Verhalten (heiß-kalt): Partner von ängstlich-vermeidenden Menschen erleben oft eine Achterbahnfahrt. In einem Moment werden sie idealisiert und mit Liebe überschüttet, im nächsten stoßen dieselben Menschen sie wütend weg oder mauern sie aus. Dieses inkonsistente Verhalten rührt daher, dass ängstlich-vermeidende Personen innerlich ständig zwischen Annäherung und Flucht schwanken. Sie wollen sich ja auf den Partner einlassen, aber im entscheidenden Augenblick taucht ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung auf, das sie reflexartig dicht machen lässt. Außenstehende erleben sie deshalb als launisch, dramatisch oder unentschlossen.

  • Kontrolle und „Manipulation“: Aus Angst vor dem unvorhersehbaren Schmerz versuchen Betroffene oft unbewusst, die Beziehung unter Kontrolle zu halten. Das kann in manipulative Tendenzen münden: z.B. den Partner testen, ihn eifersüchtig machen, Schuldgefühle erzeugen oder seine Liebe ständig prüfen. Dahinter steckt kein böser Wille, sondern panische Angst: Sie denken, wenn sie die Fäden in der Hand behalten, können sie sich vor plötzlicher Verletzung schützen. Leider erreichen sie oft das Gegenteil und destabilisieren die Beziehung noch mehr.

  • Selbstsabotage und sich erfüllende Prophezeiungen: Ängstlich-vermeidende Menschen glauben oft tief drin, dass Liebe immer weh tut oder sowieso nicht von Dauer ist. Durch ihr chaotisches Verhalten provozieren sie tatsächlich häufig Krisen, Streit und Trennungen – wodurch sich ihre Überzeugung „Beziehungen sind unsicher und schmerzhaft“ immer wieder bestätigt. Es ist, als würden sie unbewusst das Drama herbeiführen, das sie erwarten. Sie sabotieren glückliche Phasen, weil diese ihnen unheimlich sind und weil sie insgeheim überzeugt sind, es gar nicht zu verdienen, geliebt zu werden.

Kurz gesagt: Beim ängstlich-vermeidenden Bindungsstil tobt ein ständiger innerer Kampf. Ein Teil schreit nach Liebe, ein anderer will wegrennen. Daraus entsteht ein aufreibendes Hin und Her, unter dem beide Partner leiden.

Ursachen: Wie entsteht ängstlich-vermeidendes Bindungsverhalten?

Die Ursachen für diesen ambivalenten Bindungsstil liegen meist in sehr unsicheren, traumatischen Kindheitserfahrungen. Typische Hintergründe sind:

  • Ein hochgradig unberechenbares Umfeld: Viele ängstlich-vermeidend gebundene Menschen sind in Familien aufgewachsen, in denen es keine Verlässlichkeit gab. Vielleicht zeigte ein Elternteil ein Suchtverhalten oder hatte eine psychische Störung, so dass die Stimmung daheim jederzeit kippen konnte. Liebe und Angst lagen nah beieinander: Das Kind erlebte mal Zuwendung, dann wieder Zurückweisung oder sogar Gewalt. Diese Inkonsistenz prägt das Nervensystem. Das Kind lernt: „Nichts ist sicher. Menschen, die ich liebe, können mich jederzeit verletzen.“ Kein Wunder, dass im Erwachsenenalter Nähe zwar ersehnt, aber nie als sicher empfunden wird.

  • Emotionaler oder physischer Missbrauch: Viele Betroffene berichten von Misshandlungen, Missbrauch oder stark verletzenden Erfahrungen in der Kindheit. Vielleicht wurde das Kind beschimpft, geschlagen oder sexuell missbraucht – oft sogar durch diejenigen, die eigentlich Sicherheit geben sollten. Diese traumatischen Erfahrungen „zerbrechen“ die junge Psyche. Das Kind entwickelt extreme Angst vor Nähe, weil Nähe damals mit Schmerz und Gefahr verbunden war. Gleichzeitig hungert es aber weiter nach Liebe von eben jenen Personen. Diese traumatische Bindungserfahrung (man liebt die Bezugsperson und fürchtet sie zugleich) bildet die Grundlage des späteren ängstlich-vermeidenden Verhaltens.

  • Parentifizierung und Überforderung des Kindes: Häufig mussten Kinder mit spätere ängstlich-vermeidendem Stil viel zu früh Verantwortung übernehmen – emotional oder praktisch. Vielleicht waren die Eltern selbst instabil, und das Kind fühlte sich dafür verantwortlich, sie zu trösten oder die Familie zusammenzuhalten. Man nennt das Verstrickung oder Parentifizierung: Das Kind wird der „Elternteil“ seiner Eltern. Dabei ignoriert es seine eigenen Bedürfnisse völlig. Später im Leben haben solche Menschen oft schwache Selbstgrenzen und ein diffuses Ich-Gefühl, weil sie nie lernen durften, wo sie selbst enden und die anderen beginnen. In Beziehungen bedeutet das: Sie verschmelzen einerseits schnell mit dem Partner (große Abhängigkeit), fühlen sich aber andererseits durch jede Kleinigkeit bedroht in ihrem Selbst.

All diese Umstände führen beim Kind zu einer tiefen inneren Zerrissenheit. Es verinnerlicht Botschaften wie „Die Welt ist gefährlich und Beziehungen sind nicht sicher“ und „Mit mir stimmt etwas nicht, sonst würde man mich nicht so behandeln“. Gleichzeitig bleibt die angeborene Sehnsucht nach Bindung bestehen – schließlich wollen Kinder trotz allem von ihren Bezugspersonen geliebt werden. Das Resultat ist ein paradoxes inneres Modell: „Ich brauche dich, aber ich traue dir nicht.“

Dieser ständige Alarmzustand setzt sich oft bis ins Erwachsenenalter fort. Selbst wenn der erwachsene Mensch heute rational weiß, dass nicht jeder Partner ihn misshandeln wird, reagiert sein emotionales Gehirn so, als stünde wieder alles auf dem Spiel. Die alte Angst meldet sich in engen Momenten ungefiltert zurück.

Beziehungsdynamik: Wie verhalten sich ängstlich-vermeidende Personen in der Partnerschaft?

In Liebesbeziehungen sorgt der ängstlich-vermeidende Stil für ein aufreibendes Hin und Her. Partner beschreiben es oft als “heiß-kalt”-Dynamik oder als würden sie auf Eierschalen gehen, nie wissend, woran sie sind. Werfen wir einen Blick auf eine typische Beziehungskonstellation:

Fallbeispiel: „Komm her – geh weg!“

Marlies (28) und Peter (33) führen eine Beziehung, die für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist. Marlies sagt von sich, sie habe „Bindungsangst“. Peter wiederum hat einige unschöne Beziehungserfahrungen hinter sich. Anfangs war Peter fasziniert von Marlies: Sie war emotional, leidenschaftlich und suchte seine Nähe intensiv – an manchen Tagen schrieb sie ihm liebevolle Nachrichten im Stundentakt. Dann wieder zog sie sich plötzlich für ein, zwei Tage völlig zurück und reagierte kaum auf seine Anrufe. Peter war verwirrt, doch immer wenn er kurz davor war aufzugeben, kam Marlies reumütig zurück, überschüttete ihn mit Zuneigung und meinte, sie könne nicht ohne ihn leben.

Nach einigen Monaten wurden sie offiziell ein Paar. Doch anstatt ruhiger zu werden, nahmen die Konflikte zu. Ein Beispiel: Marlies weiß, dass Peter in der Vergangenheit einmal mit einer Kollegin fremdgegangen ist. Eines Abends erzählt Peter beiläufig, er habe in der Mittagspause mit eben jener Kollegin einen Kaffee getrunken – rein freundschaftlich. Für Marlies bricht eine Welt zusammen. Sofort schießt ihr durch den Kopf: „Das war bestimmt nicht nur ein Kaffee. Er belügt mich!“ Sie sagt zunächst nichts, spürt aber, wie in ihr innerlich die Panik und Wut hochkochen. Anstatt ihre Verunsicherung direkt auszusprechen, sammelt sie still Misstrauen. Noch am selben Abend wirft sie Peter mit zitternder Stimme vor: „Wo warst du wirklich? Du hast dein Handy ja heute auf stumm gehabt – wolltest du nicht, dass ich dich erreiche?“. Peter ist genervt und versucht zu erklären, dass nichts war. Marlies aber steigert sich immer mehr hinein: Sie durchsucht in einem unbeobachteten Moment sogar sein Handy nach Beweisen. Schließlich bricht sie in Tränen aus und schreit: „Du verlässt mich doch sowieso! Ich bedeute dir gar nichts!“ Fassungslos und wütend schreit Peter zurück, Marlies solle aufhören, ihn zu kontrollieren und zu beschuldigen. Der Abend endet in einem schlimmen Krach – Peter knallt die Tür und fährt weg.

Was geht in Marlies vor? Ihr Verhalten mag irrational scheinen, doch es ist getrieben von ihrer übermächtigen Angst vor Verrat und Verlust. Sie analysiert jede Geste, jedes Wort von Peter auf versteckte Zeichen von Untreue. Ein harmloser Kaffeeklatsch löst den Alarm in ihr aus: „Achtung, Vertrauensbruch!“. Statt ihre Verletzlichkeit zu zeigen (“Ich habe Angst, dich zu verlieren”), reagiert sie abwehrend und aggressiv, weil sie gelernt hat, sich bei Gefahr zu verteidigen. Ihr Misstrauen führt zu Kontrollverhalten – sie will Peter festnageln, dabei treibt sie ihn weg. Tragischerweise erfüllt sich so ihre eigene Prophezeiung: Peter distanziert sich genervt von ihr, was Marlies nur noch mehr in Angst versetzt, ihn wirklich zu verlieren.

Nach dem Streit fühlt sich Marlies zutiefst elend. Sie bereut ihren Ausbruch und hat panische Angst, Peter könnte nun Schluss machen. Am nächsten Tag ruft sie ihn weinend an, entschuldigt sich tausendmal und gelobt Besserung. Peter, der sie liebt, gibt ihr noch eine Chance. Die Versöhnung ist leidenschaftlich – beide beteuern einander ihre Liebe. Doch einige Wochen später gerät das Paar in einen ähnlichen Zyklus: Annäherung und Rückzug wiederholen sich. Peter beschreibt es irgendwann so: „Es ist, als hätte ich zwei verschiedene Frauen: Die eine ist zärtlich und braucht mich, die andere hält mich für ihren Feind.“

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie ambivalent der ängstlich-vermeidende Stil ist. Für den Partner (hier Peter) ist es eine emotionale Achterbahnfahrt voller Verwirrung und Schmerz. Einerseits bindet ihn die intensive Leidenschaft, die Marlies zeigen kann, andererseits verletzen ihn ihre Vorwürfe und das ständige Misstrauen zutiefst. Er fühlt sich machtlos, egal was er tut: Gibt er ihr viel Liebe, glaubt sie ihm nicht; zieht er sich zurück, bestätigt er ihre Angst. Menschen wie Marlies haben oft große Probleme, zu kommunizieren, was in ihrem Inneren vorgeht. Sie erwarten unbewusst vom Partner, dass er ihre Angst „zwischen den Zeilen“ spürt und immerzu Rücksicht nimmt. Bleibt die ersehnte Einfühlsamkeit aus (weil der Partner die unausgesprochenen Bedürfnisse schlicht nicht perfekt erfüllen kann), reagieren sie mit Enttäuschung und Groll. Dieser innere Groll staut sich an und entlädt sich dann in destruktiven Beziehungskrisen.

Für ihre Partner bedeutet eine Beziehung mit einem ängstlich-vermeidenden Menschen, ständig Achterbahn zu fahren. Die Partner werden oft süchtig nach den guten Phasen (den liebevollen, intensiven Momenten), wodurch sie die schlechten Phasen ertragen und immer wieder hoffen, es würde besser – ein Effekt, den Psychologen intermittierende Verstärkung nennen. Gleichzeitig leiden die Partner unter dem ständigen Wechselbad: Sie wissen nie, woran sie sind, fühlen sich manipuliert und ungerecht behandelt, und verlieren mit der Zeit oft an Selbstwertgefühl. Einige Partner entwickeln sogar selbst eine Art Abhängigkeit von dieser turbulenten Dynamik, weil die wenigen schönen Momente so überwältigend sind, dass sie die Augen vor den vielen schmerzhaften verschließen.

Innenansicht: Zerrissenheit und Trauma

Innerlich fühlen sich ängstlich-vermeidende Personen oft erschöpft und zerrissen. Sie beschreiben es manchmal so: „In mir tobt ständig ein Kampf – ein Teil von mir will einfach nur lieben und geliebt werden, der andere Teil hat Todesangst davor.“ Viele haben Symptome, die an eine Posttraumatische Belastungsstörung erinnern (Albträume, Flashbacks, dauerhafte Anspannung), insbesondere wenn ihre Kindheit von Gewalt oder Missbrauch geprägt war. Vertrauen zu fassen, fällt ihnen unendlich schwer – selbst wenn der Partner sich noch so sehr bemüht, können sie tief drinnen kaum glauben, dass alles gut ist.

Manche Betroffene sagen, sie fühlen sich „kaputt“ oder „fragmentiert“. Sie schämen sich oft für ihr Verhalten, vor allem in ruhigen Momenten nach einem Konflikt. Da kommt dann die Einsicht: „Was habe ich da nur wieder getan? Warum stoße ich den Menschen, den ich liebe, immer wieder weg?“ Leider bleibt diese Einsicht ohne therapeutische Hilfe oft kurzfristig, denn beim nächsten Trigger übernimmt erneut die Angst die Kontrolle.

Es ist wichtig zu erwähnen: ängstlich-vermeidende Menschen wollen meist gar nicht so sein, wie sie sind. Ihre Reaktionen entstammen tief verwurzelten Schutzmustern. Wer noch nie echte Sicherheit in Beziehungen erfahren hat, für den ist es unglaublich schwierig, plötzlich darauf zu vertrauen. Ihr Verhalten wirkt selbstsabotierend – und das ist es auch –, aber es geschieht nicht mit Absicht, sondern aus innerer Not. Sie befinden sich quasi dauernd im Alarmmodus und kennen nichts anderes.

Unterschiede im Überblick: Unsicher-vermeidend vs. ängstlich-vermeidend

Nach der ausführlichen Beschreibung beider Bindungsstile wollen wir die wichtigsten Unterschiede noch einmal klar herausstellen. Beide Stile haben zwar gemeinsam, dass Nähe vermieden wird, aber Motivation und Ausdruck unterscheiden sich deutlich:

  • Sehnsucht nach Nähe: Ein unsicher-vermeidender Mensch unterdrückt sein Bedürfnis nach Nähe weitgehend – es ist zwar irgendwo da, aber von der Angst vor Vereinnahmung überlagert. Ein ängstlich-vermeidender Mensch spürt die Sehnsucht nach Nähe sehr stark, steht aber gleichzeitig unter der ebenso starken Angst vor Verletzung. Er schwankt zwischen dem Nicht-Zulassen der Nähe (wie der Vermeidende) und dem Einforderung von Nähe (wie ein Verlustängstlicher).

  • Außenwirkung des Verhaltens: Unsicher-Vermeidende wirken meist kühl, distanziert, kontrolliert. Ihre Rückzugstendenzen sind relativ konstant; sie halten den Partner dauerhaft auf Abstand und zeigen wenig Extreme nach oben oder unten. Ängstlich-Vermeidende dagegen wirken unberechenbar und launisch – mal anhänglich und emotional (fast schon klammernd), dann abrupt kalt und abweisend. Sie wechseln zwischen Extremen (heiß und kalt), was für andere sehr verwirrend ist.

  • Angst und Trigger: Beide Stile haben Angst vor Verletzungen, aber bei unsicher-Vermeidenden dominiert die Angst vor Zurückweisung/Festlegung („Ich darf mich nicht abhängig machen, sonst werde ich verletzt“), während bei ängstlich-Vermeidenden zusätzlich eine starke Angst vor Verrat und Verlust ständig präsent ist („Der andere wird mich betrügen oder verlassen, egal was ich tue“). Entsprechend sind die Trigger unterschiedlich: Unsicher-Vermeidende fühlen sich getriggert, wenn der Partner mehr Nähe oder Verpflichtung will als ihnen lieb ist – dann ziehen sie sich zurück. Ängstlich-Vermeidende werden getriggert, wenn sie (real oder eingebildet) einen Vertrauensbruch oder Ablehnung wittern – dann schlagen sie Alarm und klammern oder attackieren aus Angst.

  • Kindheitliche Ursache: Beide Stile entstehen aus unsicheren Kindheitserfahrungen, aber unsicher-vermeidend resultiert oft aus einem relativ konstanten Mangel (emotionale Kühle, Zurückweisung, Vernachlässigung) – das Kind lernte: Gefühle lohnen nicht, Bindung ist nicht verlässlich. Ängstlich-vermeidend entsteht häufig durch stark schwankende oder traumatische Erfahrungen – das Kind erlebte extreme Widersprüche: Nähe wurde manchmal gewährt, dann wieder entzogen oder bestraft. So entstand die ambivalente Erwartung: Bindung ist etwas Sehnsuchtsvolles, aber jederzeit gefährlich.

  • Beziehungsdynamik: In Beziehungen neigen unsicher-Vermeidende zum dauerhaften Rückzug – sie minimieren Nähe, vermeiden tiefe Konflikte (eher stille Trennungen) und bleiben meist lange in Distanz, was Partner frustriert, aber die Dynamik ist oft statisch (wenig Drama, eher langsames Auseinanderleben oder beständiges Distanzhalten). Ängstlich-Vermeidende erzeugen dagegen intensive Drama-Zyklen: heiß-kalt, On-Off-Beziehungen, häufige Trennungen und Versöhnungen. Die Beziehung kann sehr leidenschaftlich, aber auch toxisch sein, mit vielen Konflikten und emotionalen Ausschlägen. Partner von ängstlich-Vermeidenden fühlen sich oft wie in einem Teufelskreis gefangen, während Partner von unsicher-Vermeidenden eher an chronischer emotionaler Unzufriedenheit und dem Gefühl von Mauerlaufen leiden.

Zusammengefasst könnte man sagen: Unsicher-Vermeidende fahren in der Beziehung ständig mit angezogener Handbremse, während Ängstlich-Vermeidende Gas und Bremse im Wechsel durchdrücken. Beide kommen nicht entspannt voran, aber aus unterschiedlichen Gründen.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für Betroffene und ihre Partner?

Wenn du dich selbst in einem dieser Beschreibungen wiedererkennst, fragst du dich vielleicht: Und jetzt? Bin ich einfach „unfähig zu lieben“?Keineswegs! Dein Bindungsstil ist kein endgültiges Urteil, sondern ein Ergebnis deiner bisherigen Erfahrungen. Was gelernt wurde, kann auch verlernt oder neu überschrieben werden. Der erste Schritt dahin ist genau das, was du gerade tust: Verstehen, warum du fühlst und handelst, wie du es tust. Dieses Verständnis kann bereits etwas Druck aus der Beziehung nehmen. Du merkst vielleicht: “Ich bin nicht verrückt oder gefühllos – meine Reaktionen haben Ursachen.”

Für unsicher-vermeidende Personen (also die Distanz-Spezialisten) kann es hilfreich sein, das eigene Innenleben behutsam zu erkunden. Oft liegen unter der scheinbaren Gleichgültigkeit tief verborgene Ängste und auch unerfüllte Sehnsüchte. Es erfordert Mut, sich diese einzugestehen. Vielleicht spürst du manchmal einsame Momente, in denen du dir doch Nähe wünschst – erlaube dir anzuerkennen, dass dieser Wunsch legitim ist. Du durftest als Kind vielleicht nicht abhängig sein, aber heute bist du erwachsen und darfst lernen, anderen zu vertrauen, ohne dich selbst zu verlieren. Es kann helfen, deinem Partner kleine Einblicke zu geben: Etwa zu sagen “Manchmal ziehe ich mich zurück, weil ich Angst habe, nicht gut genug zu sein” – solche Sätze kosten Überwindung, doch sie können der Anfang sein, dass dein Gegenüber dich besser versteht und du dich sicherer fühlst. Schritt für Schritt lässt sich so diese innere Mauer abtragen. Einige schaffen das allein durch neue positive Erfahrungen in einer geduldigen Partnerschaft; andere holen sich Unterstützung durch Therapie oder Coaching, um alte Glaubenssätze aufzulösen und neue Bindungserfahrungen zu verankern.

Für ängstlich-vermeidende Personen (die „emotionalen Achterbahnfahrer“) ist Selbstverstehen ebenso wichtig, aber oft schwieriger alleine zu erreichen, da Trauma und tiefsitzende Ängste im Spiel sind. Hier ist es essenziell zu lernen, die eigenen Trigger zu erkennen: Wann genau schaltet dein System auf Alarm? Welche Situationen lassen dich in Panik oder Misstrauen verfallen? Wenn du das benennen kannst (“Ich fühle mich besonders schlimm, wenn ich das Gefühl habe, nicht die Kontrolle zu haben” oder “Wenn mein Partner genervt reagiert, denke ich sofort, er verlässt mich”), dann kannst du im nächsten Schritt üben, innezuhalten, bevor du reagierst. Das klingt leichter gesagt als getan – und ja, oft braucht es professionelle Hilfe (Therapeuten mit Erfahrung in Bindungs- und Trauma-Arbeit können hier viel bewirken). Der Schlüssel liegt darin, deinem erwachsenen Selbst beizubringen, dass die heutige Situation nicht die damalige ist. Dein Partner ist nicht deine Mutter/dein Vater; du bist nicht mehr das hilflose Kind. Es gibt Techniken, um das Nervensystem zu beruhigen (Atemübungen, Achtsamkeit etc.), wenn die Angst hochkocht. Mit der Zeit kannst du lernen, deine Bedürfnisse klarer zu kommunizieren, ohne Vorwürfe oder Tests – zum Beispiel zu sagen: “Ich fühle mich gerade unsicher und hab Angst, dich zu verlieren, kannst du mich kurz in den Arm nehmen?” anstatt dich zurückzuziehen oder zu attackieren. Solche kleinen Änderungen im Verhalten sind enorm schwierig am Anfang, aber sie können die Beziehung dynamisch positiv verändern.

Für die Partner von vermeidend gebundenen Menschen ist es ebenso wichtig, dieses Wissen zu nutzen. Wenn du liebst jemanden mit unsicher-vermeidendem Stil, verstehe: Seine Rückzüge bedeuten nicht, dass du unwichtig wärst oder er dich nicht liebt – sie bedeuten, dass er sich schützt. Nimm es also nicht sofort persönlich, sondern bleib geduldig, aber achte auch auf deine Grenzen. Druck und Vorwürfe treiben ihn eher weg, während ruhige Offenheit ihn einlädt. Zeige, dass du da bist, aber lass ihm Raum. Bei einem ängstlich-vermeidenden Partner wiederum musst du wissen: Ihre scheinbaren „Spielchen“ kommen aus Angst. Versichere ihr, dass du sie liebst, aber lass dich nicht in toxische Muster hineinziehen. Setze behutsam Grenzen, wenn ihr Verhalten dich verletzt. In beiden Fällen gilt: Selbstfürsorge nicht vergessen! Du bist nicht der Therapeut deines Partners. Unterstützen ja, aber dich selbst dabei verlieren nein.

Am Ende des Tages benötigen beide Bindungsstile – unsicher-vermeidend wie ängstlich-vermeidend – vor allem Verständnis und Geduld, sowohl von sich selbst als auch vom Partner. Veränderung passiert nicht über Nacht. Doch mit ehrlicher Kommunikation und vielleicht auch der Hilfe von außen sind erstaunliche Entwicklungen möglich. Viele ehemals „bindungsunfähige“ Menschen schaffen es, alte Muster zu durchbrechen und sich sicherer zu binden, wenn sie mit ihren Ängsten gesehen und angenommen werden.

Fazit

Unsicher-vermeidende und ängstlich-vermeidende Bindungsstile sind zwei Formen der Bindungsangst, die auf den ersten Blick ähnlich erscheinen – beide vermeiden Nähe –, bei näherer Betrachtung jedoch sehr verschieden sind. Der eine Typus schützt sich vor Verletzungen, indem er dauerhaft auf Distanz geht. Der andere ringt einen ständigen inneren Kampf zwischen Nähebedürfnis und Verlustangst aus, was zu einem chaotischen Wechselspiel führt. Beide Verhaltensweisen können Beziehungen auf eine harte Probe stellen und viel Schmerz verursachen – für Betroffene selbst und für ihre Partner.

Die gute Nachricht ist: Bindungsmuster sind nicht in Stein gemeißelt. Sie spiegeln vergangene Erfahrungen wider, aber wir können in der Gegenwart neue Erfahrungen machen. Indem wir erkennen, warum wir (oder unser Partner) auf eine bestimmte Weise reagieren, können wir uns langsam davon lösen, blindlings den alten Mustern zu folgen. Es ist ein Prozess, der Zeit, Selbstehrlichkeit und oft Unterstützung erfordert. Doch es lohnt sich: Am Ende dieses Weges steht die Fähigkeit, liebevolle Beziehungen ohne ständige Angst zu führen – etwas, das jeder Mensch verdient hat.

Du siehst also, Verständnis ist der erste Schritt. Wenn du diesen Artikel bis hierher gelesen hast, hast du schon viel investiert – in dich selbst und in deine Beziehungen. Nimm dieses Wissen, um mit etwas mehr Mitgefühl auf dich und andere zu blicken. Wir alle tragen unsere Päckchen aus der Vergangenheit. Indem wir sie gemeinsam auspacken, können wir uns gegenseitig helfen, frei zu werden für eine sichere, verbindliche Liebe.

Weiterführende Quellen und Links: (Hier findest du Studien, Artikel und Ressourcen, die im Text erwähnt wurden oder hilfreich sein könnten.)

  1. Chris Bloom: Unsicher-vermeidender Bindungsstil – Erkennen und überwinden (2025) – Umfangreicher Blogartikel über Merkmale, Ursachen und Tipps zum unsicher-vermeidenden Bindungsstil chrisbloom.de.

  2. Kati Körner: Vermeidender Bindungsstil – Beschreibung des abweisend-vermeidenden Bindungstyps mit Einblicken in kindliche Prägungen und innere Gedankenwelt katikoerner.de.

  3. Kati Körner: Ängstlich vermeidender Bindungsstil – Detaillierte Darstellung des ängstlich-vermeidenden (desorganisierten) Bindungsmusters, inkl. familiärer Hintergründe, typischer Beziehungsmuster und Untertypen katikoerner.de.

  4. Jolie.de: Bindungsstil – die vier Arten und ihre Auswirkungen (2023) – Übersichtlicher Artikel zu den vier klassischen Bindungsstilen nach der Bindungstheorie jolie.de.
    (Enthält auch Hinweise zur Häufigkeit, z.B. ca. 20% unsicher-vermeidend gebundene Menschen).

  5. Brigitte.de: Unsicher-vermeidende Bindung – was ist das? – Kurzbeitrag, der die verschiedenen Begriffe (vermeidend, abweisend-vermeidend, ängstlich-vermeidend) erklärt und als Synonyme einordnet sinnsucher.de.
    Hinweis: Hier werden Begriffe teils anders verwendet; für diesen Blogbeitrag haben wir sie klar differenziert.

  6. Fachartikel (Psychologie Partnersuche): Sicher, ängstlich oder vermeidend – Wer passt zu wem? – beschreibt, wie unterschiedliche Bindungstypen in Partnerschaften interagieren psychologie-partnersuche.de, theschooloflife.com. Hilfreich, um zu verstehen, welche Dynamiken zwischen z.B. ängstlichen und vermeidenden Partnern auftreten.

  7. Buch-Tipp: Ängstlich und Abweisend Vermeidend – Ein duales Arbeitsbuch (2021, auf Deutsch) – Ein Workbook, das sowohl ängstlich-vermeidenden als auch abweisend-vermeidenden Personen Übungen anbietet, um Trigger zu bewältigen und Bindungsängste zu überwindenreddit.com.
    (Für alle, die aktiv an ihrem Bindungsstil arbeiten möchten.)

Weiter
Weiter

Warum Menschen mit vermeidendem Bindungsstil kaum echte Freundschaften haben