Vermeidender Bindungsstil und Elternschaft

Die Geburt des eigenen Kindes gehört zu den tiefgehendsten Erfahrungen im Leben. Plötzlich ist da ein kleiner Mensch, der auf Liebe, Schutz und Nähe angewiesen ist – rund um die Uhr. Für Eltern mit einem vermeidenden Bindungsstil kann genau das jedoch zur unerwarteten Herausforderung werden. Vielleicht erkennst du dich darin wieder: Du liebst dein Kind über alles, aber zugleich fühlst du dich von der ständigen Nähe schnell überfordert oder eingeengt. Du möchtest für deinen Sohn oder deine Tochter da sein, kämpfst aber innerlich mit dem Impuls, dich zurückzuziehen, sobald es emotional intensiv wird. Diese inneren Widersprüche können Schuldgefühle und Selbstzweifel auslösen – bin ich etwa ein schlechter Elternteil, nur weil ich Freiraum brauche?

In diesem Beitrag möchte ich dich und auch deine(n) Partnerin mitnehmen auf eine ehrliche, einfühlsame und zugleich sachliche Reise. Ohne theoretische Exkurse (die Grundlagen der Bindungstheorie findest du in anderen Artikeln hier auf dem Blog) schauen wir uns an, wie sich ein vermeidender Bindungsstil ganz konkret auf die Kindererziehung auswirken kann. Wir beleuchten dabei drei zentrale Bereiche – emotionale Verfügbarkeit, Empathie-Modellierung und den Umgang mit Nähe in der Familie. Außerdem werfen wir einen selbstkritisch-reflektierenden Blick darauf, wie die eigene Kindheit hier mitspielt, und wie man als Betroffener gemeinsam mit dem Partner einen Weg finden kann, aus alten Mustern auszubrechen.

Mach es dir bequem und nimm dir Zeit für diese Zeilen. Vielleicht erkennst du eigene Verhaltensweisen wieder. Vielleicht tun sich schmerzliche Aha-Momente auf. Vor allem aber soll dieser Beitrag Mut machen: Verständnis wecken für deine innere Gefühlswelt und zeigen, dass Veränderung möglich ist – für dich und das Wohl deines Kindes.

Emotionale Verfügbarkeit –
die unsichtbare Basis der Eltern-Kind-Bindung

Eine warme Mahlzeit, frische Windeln, ein Dach über dem Kopf – all das gibst du deinem Kind vermutlich ganz selbstverständlich. Doch Elternsein bedeutet mehr, als nur die grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen. Ein Kind braucht auch emotionale Nähe und spürbares Mitgefühl. Genau hier liegt oft die Krux für vermeidend gebundene Eltern. Sie kümmern sich zwar fürsorglich um das körperliche Wohl des Kindes, bleiben aber auf der Gefühlsebene auf Distanz. Man könnte sagen: Für das Kind fühlt sich der Elternteil wie eine „emotionale Wüste“ an – körperlich zwar präsent, aber gefühlsmäßig kaum erreichbar. Was bedeutet das konkret?

Stell dir vor, dein Kleinkind fällt hin und beginnt zu weinen. Dein Impuls als vermeidend geprägter Elternteil könnte sein: Es ist doch nichts Schlimmes passiert, steh einfach wieder auf. Vielleicht ignorierst du den kleinen Unfall weitgehend oder sagst sogar ungehalten: „Nun hab dich nicht so!“ Du hoffst, dein Kind damit zur Selbständigkeit zu erziehen. Die Botschaft, die bei deinem Kind ankommt, lautet jedoch: Mit meinem Schmerz und meiner Angst stehe ich alleine da. Tatsächlich zeigen Beobachtungen: In unsicher-vermeidenden Bindungen fühlt sich das Kind mit allem, was es belastet, allein gelassen. Die Bezugsperson reagiert nicht auf seine Kummer-Signale – etwa wenn es Angst hat und weint – sondern vermittelt (oft unwissentlich): „Du musst das alleine schaffen; Hilfe oder Trost brauchst du nicht.“ Diese Eltern sind sehr auf die Autonomie ihres Kindes bedacht – es soll am besten früh lernen, stressige Situationen selbst zu meistern.

Das Fatale daran: Dein Kind lernt tatsächlich erstaunlich schnell, alleine „klarzukommen“ – zumindest äußerlich. Es wird möglicherweise ein sehr braves und unabhängiges Kleinkind,
das “keinen Aufhebens” um seine Bedürfnisse macht. Doch dieser Schein trügt. Innerlich erlebt das Kind durchaus Angst, Schmerz oder Traurigkeit – es hat nur gelernt, diese Gefühle zu unterdrücken, weil niemand verlässlich darauf eingeht. Die traurige Wahrheit: Wenn ein Kind immer wieder erfährt, dass seine Kummerzeichen zurückgewiesen oder heruntergespielt werden, stellt es seine Bedürfnisse irgendwann ein. Es weint nicht mehr, es fragt nicht mehr – und entwickelt eine Art pseudo-erwachsene Fassade. Was wie außergewöhnliche Selbständigkeit bei einem Kleinkind wirkt, ist in Wirklichkeit ein Schutzmechanismus: „Zeig nicht, dass du Hilfe brauchst, du bekommst ja doch keine.“ Genau so entsteht ein unsicher-vermeidender Bindungsstil bei Kindern.

Für dich als Elternteil bedeutet das nicht, dass du lieblos oder herzlos bist – dein Verhalten kann eine unbewusste Schutzstrategie aus der eigenen Kindheit sein. Viele heute vermeidend gebundene Mütter und Väter sind selbst in einem Umfeld aufgewachsen, in dem “Gefühlsduseleien” wenig Platz hatten. Vielleicht wurden auch dir Sätze an den Kopf geworfen wie „Stell dich nicht so an!“ oder „Reiß dich zusammen!“, sobald du als Kind geweint hast. Solche Erfahrungen prägen: Man lernt früh, die eigenen Emotionen wegzuschließen, und genau das zeigt sich später gegenüber den eigenen Kindern wieder – oft ohne es zu wollen. Dr. med. Cyril Lüdin beschreibt, wie Eltern, die als Kind emotional unterversorgt aufwuchsen, im Erwachsenenalter oft „verschlossen, unsensibel, unzugänglich“ in vielen Situationen reagieren. Ihre Kommunikation mit dem Nachwuchs ist unzuverlässig; die Mutter oder der Vater ist emotional nicht genügend verfügbar und verhält sich dem Kind gegenüber phasenweise sogar ablehnend. Das Baby hat in so einem Fall keine sichere Basis – es entwickelt eine unsicher-vermeidende Bindung und meidet seinerseits die emotionale Nähe, weil es gelernt hat, dass von der Bezugsperson kein Trost zu erwarten ist.

Emotionale Verfügbarkeit heißt im Grunde, mit dem Herzen wirklich da zu sein: die Gefühle des Kindes wahrnehmen, darauf eingehen, Sicherheit spenden. Fehlt diese Verfügbarkeit, hat das Folgen – kurzfristig und langfristig. Kurzfristig erlebt dein Kind mehr Stress, weil es Kummer alleine bewältigen muss. Langfristig kann es sein, dass es selbst Schwierigkeiten entwickelt, Vertrauen zu fassen oder eigene Emotionen zuzulassen. Eine liebevolle Eltern-Kind-Bindung basiert jedoch darauf, dass das Kind sich bedingungslos angenommen fühlt. Es muss spüren: “Mama/Papa ist für mich da – nicht nur, wenn ich lache, sondern auch, wenn ich weine.”

Die gute Nachricht: Emotional verfügbarer zu sein kann man üben. Es mag dir anfangs fremd vorkommen, tröstende Worte zu finden oder dein weinendes Kind in den Arm zu nehmen, wenn in deiner eigenen Kindheit vielleicht streng durchgreifen statt Kuscheln die Devise war. Aber jedes Mal, wenn du dich bewusst dafür entscheidest, da zu bleiben, statt wegzugehen, stärkt das die Bindung. Dein Kind lernt: Es darf mit seinen Gefühlen zu dir kommen – und du wirst es nicht abweisen. Schritt für Schritt entsteht so das, was John Bowlby den „sicheren Hafen“ nennt: Ein emotionaler Rückzugsort, der deinem Kind Urvertrauen gibt.

Wenn Eltern keine Empathie vorleben, lernen Kinder sich selbst zu verstecken

Eng verbunden mit der emotionalen Verfügbarkeit ist das Thema Empathie. Empathie bedeutet, sich einfühlen zu können – die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen nachzuvollziehen und mitzufühlen. Wie lernen Kinder Empathie? Vor allem dadurch, selbst Empathie zu erfahren. Eine Entwicklungspsychologin fasste das einmal schön zusammen: “Wenn wir empathische Kinder erziehen wollen, müssen wir ihnen direkte Erfahrungen damit geben, verstanden und unterstützt zu werden.”.
Anders gesagt: Nur wenn dein Kind spürt “Meine Mama versteht mich; mein Papa interessiert sich für das, was in mir vorgeht”, kann es selbst Mitgefühl entwickeln – für sich und für andere.

Gerade hier zeigt sich die Problematik des vermeidenden Erziehungsstils. Vermeidend orientierte Eltern modellieren Empathie oft nicht ausreichend vor. Nicht, weil es ihnen an Mitgefühl mangelt, sondern weil sie es nicht ausdrücken können oder Angst haben, “zu viel Drama” zu machen. Das führt dazu, dass wichtige Lerngelegenheiten verlorengehen. Beispiel: Deine Tochter kommt geknickt von der Schule nach Hause, weil ein anderes Kind sie geärgert hat. Ein empathischer Elternteil würde vielleicht sagen: “Oh nein, das tut mir leid. Das war sicher verletzend für dich. Komm her, erzähl mal genauer.” – und damit dem Kind zeigen: Deine Gefühle sind berechtigt und ich fühle mit dir. Ein vermeidender Elternteil hingegen – überfordert von den traurigen Emotionen im Raum – reagiert womöglich kühl oder genervt: “Ach, das ist doch nicht so schlimm. Da musst du drüberstehen.” Vielleicht sogar mit einem scherzhaften Ton: “Bist halt sensibel, was?”

Solche Reaktionen sind selten böse gemeint – häufig wollen vermeidende Eltern ihr Kind “stark machen” und glauben, es helfe, das Problem runterzuspielen. In Wahrheit passiert jedoch das Gegenteil: Das Kind fühlt sich unverstanden und allein mit seinem Kummer. Wiederholt sich das regelmäßig, lernt dein Kind zweierlei: Erstens, meine Gefühle sind lästig oder übertrieben. Und zweitens, es hat keinen Zweck, anderen mein Inneres zu zeigen – es kommt ja doch keine verständnisvolle Reaktion. Viele emotional vernachlässigte Kinder berichten später, dass ihre Eltern ihre Gefühle ständig minimiert oder lächerlich gemacht haben. Sie hörten Sätze wie: „Jetzt sei nicht so dramatisch!“ oder „Andere haben viel schlimmere Probleme als du.“.
Die Botschaft dahinter – auch wenn sie unausgesprochen bleibt – lautet: “Deine Gefühle zählen nicht wirklich.”

Die Auswirkungen sind tiefgreifend. Ein Kind, das keine empathische Resonanz bekommt, entwickelt oft selbst wenig Empathie – weder für sich noch für andere. Es zieht sich in sich zurück oder es lernt, Gefühle rational wegzustecken, ohne hinzuspüren. Manche Kinder übernehmen sogar die Perspektive der vermeidenden Eltern und werden auffallend “vernünftig” und hart gegen sich selbst („Ich sollte mich nicht so anstellen“). Langfristig besteht die Gefahr eines Teufelskreises: Dein Kind könnte ebenfalls einen vermeidenden Stil entwickeln – und wieder Schwierigkeiten haben, auf die Gefühle anderer (und die eigenen) einzugehen. Empathie wird so gleich über zwei Generationen nicht ausreichend vorgelebt.

Als (ehemals) vermeidend gebundene Person kannst du diesen Kreislauf durchbrechen, indem du dir vornimmst, Empathie aktiv zu zeigen. Das heißt nicht, dass du zum überschwänglichen Gefühlsmenschen mutieren musst. Es geht um kleine Signale im Alltag: Zuhören, Nachfragen, Verbalisieren. Übe dich darin, die Emotionen deines Kindes in Worte zu fassen. Zum Beispiel: “Du bist traurig, weil dein Freund heute keine Zeit hatte, richtig?”“Ich merke, das hat dir wehgetan.” Anfangs mag dir das ungewohnt vorkommen, vielleicht sogar wie eine fremde Sprache. Doch genau durch dieses Benennen von Gefühlen lernt dein Kind, dass seine innere Welt gesehen wird. Es erfährt: “Mama/Papa versteht mich.” Und das ist die Grundlage dafür, dass es selbst mitfühlend werden kann.

Empathie vorleben heißt auch, eigene Fehler einzugestehen und auf die Gefühle anderer einzugehen. Gerade in Konflikten mit deinem Kind kannst du Empathie üben: Wenn du z.B. mal schroff reagiert oder ungerecht geschimpft hast (was jedem passiert), entschuldige dich später und erkläre in einfachen Worten, warum du vielleicht gereizt warst. Zeig deinem Kind, dass auch du Gefühle hast und diese benennen kannst („Entschuldige, Schatz, Mama war vorhin gestresst und deswegen unfair. Du hattest Recht, wütend zu sein.“). Solche Gespräche auf Augenhöhe sind Gold wert: Dein Kind lernt, dass Gefühle weder tabu noch gefährlich sind, sondern normal und besprechbar.

Falls du einen Partner oder eine Partnerin hast, der/die emotional offener ist, könnt ihr euch als Team ergänzen. Beobachte, wie dein Partner vielleicht intuitiv tröstet oder Verständnis zeigt, und lass dich davon inspirieren. Das heißt nicht, dass du deine Persönlichkeit komplett ändern sollst. Doch indem du bewusste Momente der Empathie schaffst, tust du sowohl deinem Kind als auch dir selbst etwas Gutes. Viele vermeidende Eltern berichten, dass es ihnen mit der Zeit selbst leichter fällt, Gefühle zuzulassen, wenn sie sehen, wie positiv ihr Kind darauf reagiert. Die anfangs vielleicht holprigen einfühlsamen Worte werden mit Übung natürlicher. Und die strahlenden Augen deines Kindes, das sich gehört und geliebt fühlt, sind die schönste Belohnung für deinen Mut, dich auf dieses “Emotionsding” einzulassen.

Umgang mit Nähe in der Familie – warum dir Distanz so wichtig ist

Neben dem emotionalen Eingehen auf das Kind gibt es einen sehr greifbaren Aspekt, der für viele vermeidende Persönlichkeiten schwierig ist: körperliche und räumliche Nähe im Familienalltag. Menschen mit vermeidendem Bindungsstil fühlen sich bekanntermaßen schnell eingeengt, wenn jemand ständig um sie ist – das gilt in Liebesbeziehungen, aber ebenso im Familienleben. Ein Kind jedoch fordert (und braucht) besonders in den jungen Jahren enorm viel Nähe. Es will kuscheln, auf den Arm, im selben Bett schlafen, immerzu mit Mama oder Papa zusammen sein. Für jemanden, der viel Eigenraum gewohnt ist, kann diese ständige Präsenz des Kindes zeitweise erdrückend wirken, auch wenn man es natürlich über alles liebt.

Vielleicht ertappst du dich selbst dabei, wie du im Alltag kleine Fluchten suchst: Du verbringst ungewöhnlich lange im Bad, nur um mal fünf Minuten für dich zu haben. Oder du freust dich ein bisschen zu sehr auf die kurze Geschäftsreise, weil du da abends allein im Hotelbett liegen kannst. Solche Gefühle sind nichts, wofür du dich schämen musst. Sie bedeuten nicht, dass du dein Kind nicht liebst – sie zeigen nur, dass du als vermeidend geprägter Mensch ein starkes Bedürfnis nach Abstand und Me-Time hast, um dich sicher und wohl zu fühlen. Wichtig ist allerdings, wie du mit diesem Bedürfnis umgehst, ohne dein Kind vor den Kopf zu stoßen.

Viele vermeidende Eltern reagieren auf Über-Nähe reflexartig mit Rückzug. Nach einem ausgedehnten Kuschel-Wochenende mit dem Kind zieht man sich am Montag emotional komplett zurück, ist ungewohnt kühl oder wortkarg – einfach, weil das “Nähe-Fass” erstmal voll ist. Dein Kind spürt diese plötzliche Distanziertheit natürlich und versteht die Welt nicht mehr. Gerade war alles innig und schön, und auf einmal wirkst du abwesend oder gereizt. Solche wechselhaften Signale können dein Kind verunsichern. Es fragt sich vielleicht: Hab ich etwas falsch gemacht? Wieso will Mama/Papa mich jetzt nicht bei sich haben?

Ein klassisches Beispiel: Ihr hattet einen intensiven Familienausflug, alle hatten Spaß und viel Nähe. Am nächsten Tag ziehst du dich ins Arbeitszimmer zurück und möchtest deine Ruhe. Dein Kind klopft an die Tür, will wieder spielen oder kuscheln, und du reagierst unwirsch: “Lass mich jetzt mal in Ruhe, ich hab zu tun!” Vielleicht versteckst du dich sogar hinter Aufgaben oder dem Handy, nur um nicht wieder “vereinnahmt” zu werden. Für dein Kind fühlt sich das wie eine Ablehnung an – es versteht nicht, dass dein Verhalten nichts mit ihm persönlich zu tun hat, sondern mit deinem eigenen Stresslevel in Sachen Nähe.

Wie kannst du hier gegensteuern? Zunächst einmal, indem du dein eigenes Nähe-Distanz-Bedürfnis ehrlich reflektierst. Erkenne an, dass du wahrscheinlich regelmäßig Auszeiten brauchst, um aufzutanken – und plane diese bewusst ein, anstatt sie im Affekt auf Kosten deines Kindes durchzusetzen. Das könnte bedeuten: Sprich mit deinem Partner ab, dass du jeden Tag eine halbe Stunde für dich bekommst, während er/sie das Kind übernimmt. Oder wenn du alleinerziehend bist: Nutze die Zeit, wenn dein Kind schläft oder betreut ist, aktiv für dein Alleinsein (statt dann noch Haushalts-To-Dos abzuarbeiten). Wichtig ist, diese Auszeiten nicht mit schlechtem Gewissen zu versehen, sondern als notwendigen Akku-Ladevorgang zu betrachten. Wenn du nämlich aufgefüllter bist, kannst du danach deinem Kind wieder mehr Nähe schenken, ohne dich sofort ausgelaugt zu fühlen.

Andererseits solltest du aber auch bewusst Nähezeiten mit deinem Kind einplanen – gerade weil es dir nicht automatisch leichtfällt. Vielleicht hilft es dir, feste Rituale einzuführen, die Nähe schaffen, ohne dass du dich überrannt fühlst. Zum Beispiel ein abendliches Gute-Nacht-Ritual: gemeinsam auf dem Bett sitzen, eine Geschichte vorlesen und dabei das Kind im Arm halten. Du weißt, es ist zeitlich begrenzt und Teil der Routine – das gibt dir Struktur und Kontrolle, während dein Kind die körperliche Zuwendung genießen kann. Oder ein Papa-Tochter/ Mama-Sohn-Spaziergang am Wochenende, Hand in Hand, wo ihr Zeit habt, euch ohne Ablenkung zu unterhalten. Solche Inseln von bewusster Nähe sind enorm wertvoll. Sie zeigen deinem Kind: “Ich möchte dir nah sein”, aber sie geben auch dir ein Gefühl von Sicherheit, weil du sie dosieren und vorab mental vorbereiten kannst.

Wenn du merkst, dass dir die Nähe mal zu viel wird, versuche, das deinem Kind liebevoll zu kommunizieren, statt es einfach abzuweisen. Schon kleine Kinder verstehen einfache Erklärungen erstaunlich gut. Du könntest zum Beispiel sagen: “Mama braucht mal kurz fünf Minuten Pause, dann spielen wir weiter, okay?” – und diese Pause dann auch wirklich kurz halten. So lernt dein Kind, dass dein Bedürfnis nach Abstand nichts mit Zurückweisung zu tun hat und dass du verlässlich zurückkommst. Entscheidend ist die Balance: Ziehst du dich immerzu zurück, fühlt sich dein Kind verlassen; gehst du aber über deine Grenzen, staut sich in dir Unmut an, der sich später doch entlädt. Also gönne dir Pausen, aber kehre bewusst zurück in den Kontakt.

Ein Wort noch zu körperlicher Zuneigung: Viele Vermeidende sind nicht die größten Kuschel-Fans. Vielleicht fällt es auch dir nicht leicht, dein Kind ständig abzuküssen oder zu knuddeln. Trotzdem: Körperliche Wärme ist für Kinder ungemein wichtig. Überlege, welche Formen von Körperkontakt für dich okay sind, und biete sie aktiv an, bevor dein Kind danach betteln muss. Das kann ein festes Drücken am Morgen sein, ein kurzes Schulterstreicheln zwischendurch, ein Spaß-Faustcheck oder abends vorm Schlafen ein Gute-Nacht-Kuss. Wenn Umarmungen für dich schwierig sind, fang mit kleinen Berührungen an. Du wirst sehen, je öfter du dein Kind von Herzen anfasst (im positiven Sinne), desto natürlicher wird es – und desto mehr genießt möglicherweise auch du diese Momente. Körperkontakt schüttet bei beiden Bindungshormone aus, die Nähe mit etwas Wohligem verbinden. So kannst du dir nach und nach die Angst vor dem “Erdrücktwerden” nehmen, weil du erlebst: Nähe kann auch geborgen und angenehm sein, ohne dich einzuschnüren.

Deine eigene Kindheit – ein Schatten, der auf die Elternschaft fällt

Im Laufe dieses Artikels ist eines deutlich geworden: Wie du heute erziehst, hat viel mit deinen eigenen frühen Erfahrungen zu tun. Dein vermeidender Bindungsstil ist nicht vom Himmel gefallen. Meist steckt eine Geschichte dahinter – eine Geschichte von Zurückweisungen, von „hartem“ Erziehungsstil, vielleicht auch von Eltern, die selbst überfordert, streng oder kühl waren.
Als Kind hast du damals verinnerlicht: “Zeig keine Schwäche, Gefühle sind gefährlich, auf andere kannst du dich nicht verlassen.” Diese Überzeugungen liegen oft tief im Unterbewusstsein verankert und beeinflussen jetzt dein Verhalten als Mutter oder Vater.

Es lohnt sich, diese Prägungen ehrlich anzuschauen. So unangenehm es sein mag, sich an eigene Enttäuschungen oder Verletzungen in der Kindheit zu erinnern – darin liegt der Schlüssel, um heutige Muster zu verstehen. Frage dich in ruhigen Momenten: Welche Haltung haben meine Eltern mir gegenüber gezeigt? War da viel Herzlichkeit, oder eher Distanz? Durfte ich weinen, oder wurde das belächelt/bestraft? Fühlte ich mich geborgen, oder oft auf mich allein gestellt? – Die Antworten auf diese Fragen können schmerzhaft sein, denn kein Elternteil war perfekt (und es geht nicht um Schuldzuweisung!). Doch indem du erkennst, woher dein eigenes Bindungsmuster rührt, kannst du dich bewusst dagegen entscheiden, die negativen Aspekte davon an dein Kind weiterzugeben.

Manchmal ist es fast unheimlich, wie automatisch man als Erwachsener Dinge sagt oder tut, die man als Kind selbst erlebt hat – obwohl man doch nie so werden wollte. Vielleicht hörst du plötzlich die Stimme deines Vaters aus dir herauskommen, wenn du deinem Sohn sagst, er solle nicht so weinerlich sein. Oder du ertappst dich bei dem Gedanken, dass Zärtlichkeiten “überbewertet” seien, weil es dir so vorgelebt wurde. Diese Erkenntnisse tun weh, aber sie sind enorm wichtig. Sie erlauben dir, innezuhalten und dich neu auszurichten. Du bist nicht Sklave deiner Prägung. Sobald dir bewusst wird, “Hoppla, jetzt reagiere ich gerade so, wie es meine Mutter damals tat – und ich habe darunter gelitten”, kannst du im nächsten Schritt aktiv etwas anders machen.

Hier kann übrigens auch professionelle Unterstützung hilfreich sein. In einer Therapie oder Elternberatung hast du Raum, deine eigenen Kindheitsverletzungen aufzuarbeiten. Es geht dabei nicht darum, die Vergangenheit zu bejammern, sondern darum, Verständnis für das eigene innere Kind zu entwickeln. Denn wenn du verstehst, warum dich bestimmte Situationen (z.B. das Schreien deines Babys) so triggern – nämlich weil sie alte Wunden anrühren – kannst du bewusster reagieren und musst nicht in den Autopilot-Modus (Flucht/Abschalten) schalten. Viele Betroffene beschreiben es so: Erst als ich meine eigene Geschichte sortiert hatte, konnte ich meinem Kind geben, was ich selbst nie bekam. Dieser Prozess kann emotional sein, klar. Aber er ist extrem heilsam – für dich und dein Kind.

Scheue dich also nicht, dir Hilfe zu holen, wenn du merkst, dass dich alte Erlebnisse immer noch fest im Griff haben. Das ist keine Schwäche, sondern ein Schritt von Stärke: Du übernimmst Verantwortung dafür, den Kreislauf zu durchbrechen. Jede Generation hat die Chance, aus den Mustern der vorherigen auszubrechen. Du bist nicht verdammt, die Geschichte deiner Eltern exakt zu wiederholen. Indem du dich mit deiner Vergangenheit auseinandersetzt, schaffst du neue Möglichkeiten in der Gegenwart – hin zu einer einfühlsameren, sichereren Bindung mit deinem Kind.

Partner und Co.: Ein Team gegen das Muster

Wenn du in einer Partnerschaft lebst, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dein Bindungsstil auch dort für Dynamik sorgt. Vielleicht ist dein Partner selbst eher ängstlich gebunden (das passiert gar nicht selten – Gegensätze ziehen sich an und verstärken dann gegenseitig die Muster). Dann habt ihr vielleicht schon vor der Elternschaft das klassische Nähe-Distanz-Spiel erlebt. Mit einem Kind werden diese Unterschiede oft noch deutlicher: Der ängstliche oder sichere Partner übernimmt womöglich intuitiv viel von der emotionalen Fürsorge fürs Kind, während der vermeidende Partner sich eher auf praktische Aspekte stürzt (Karriere sichern, Finanzen, Ordnung etc.). Das kann zu Ungleichgewichten führen, die beiden wehtun.

Als vermeidender Elternteil könntest du das Gefühl haben, dein Partner kritisiert dich ständig oder hält dich für gefühlskalt gegenüber dem Kind. Dein Partner wiederum fühlt sich eventuell alleingelassen mit der “Kuschel- und Kümmer-Arbeit” und wünscht sich, du würdest dich mehr einbringen bei den emotionalen Bedürfnissen des Nachwuchses. Diese unausgesprochenen Vorwürfe nagen an der Beziehung. Deshalb: Redet offen über eure Bindungsunterschiede! Macht euch bewusst, dass keiner von euch aus Böswilligkeit so ist, wie er ist. Deine Distanz ist ein Schutzmechanismus, keine Lieblosigkeit. Die vielleicht übergroße Besorgtheit deines Partners ist dessen eigener Bewältigungsstil, keine Absicht, dich zu bevormunden.

Versucht, gegenseitig Verständnis aufzubringen. Wenn dein Partner dich darauf hinweist, dass euer Kind heute extra anhänglich ist, weil es Kummer im Kindergarten hatte, nimm diese Info an, auch wenn es dich innerlich stresst. Er/Sie will dir nicht vorschreiben, was zu tun ist, sondern helfen, die Signale eures Kindes zu verstehen. Umgekehrt darfst du deinem Partner ruhig erklären, dass du manchmal Ruhepausen brauchst, um überhaupt geduldig und liebevoll sein zu können. Wichtig: Tue das nicht in hitzigen Momenten (“Lass mich in Ruhe!”), sondern in ruhigen Minuten: “Schau, ich merke, ich werde leicht gereizt, wenn ich keine Minute für mich habe. Können wir es so einteilen, dass ich nach der Arbeit erst mal kurz durchatme, bevor ich mich voll aufs Kind einlasse?” Ein verständnisvoller Partner wird solche Bitten ernst nehmen und unterstützen, denn letztlich profitieren ja alle davon, wenn ihr als Eltern besser im Einklang seid.

Ihr könnt euch auch bewusst als Team organisieren: Spielt eure jeweiligen Stärken aus, ohne den anderen abzuwerten. Vielleicht ist dein Partner einfühlsamer beim Trösten – dann ist es okay, wenn er/sie in akuten Heul-Anfällen eures Kindes federführend ist. Dafür kannst du z.B. die abendliche Geschichte übernehmen, wo du in ruhiger Atmosphäre Nähe zulassen kannst. Oder ihr macht “Good Cop, Bad Cop” auf positive Art: Der eine gibt Sicherheit und Verständnis, der andere bringt Struktur und Ruhe hinein. Achtet nur darauf, euch nicht gegenseitig auszuspielen oder vor dem Kind zu kritisieren. Gerade Kinder spüren schnell, wenn Mama und Papa uneinig sind. Besser ist, ihr signalisiert: “Auch wenn wir unterschiedlich sind, wir ziehen an einem Strang – zu deinem Besten.”

Für Partner von vermeidenden Personen gilt der Appell zur Geduld. Es kann frustrierend sein, zuzusehen, wie der geliebte Mensch sich manchmal von einem bedürftigen Kind abwendet oder keine rechte Freude an Kuschelzeit zu haben scheint. Versuche, es nicht persönlich zu nehmen und keinen Generalvorwurf daraus zu stricken („Du liebst uns nicht genug“). Erkenne an, dass dein Partner eine andere emotionale Landkarte hat. Das heißt nicht, dass es so bleiben muss – aber Druck und Kritik werden ihn/sie eher noch weiter in den Rückzug treiben. Wertschätzung für kleine Fortschritte wirkt Wunder: Wenn dein sonst so distanzierter Mann sich z.B. von sich aus zum ersten Mal zum Kind auf den Boden setzt und mit Duplo spielt, statt sich zurückzuziehen, dann lobe das ehrlich: “Schön, euch zwei so zu sehen.” Das motiviert, so ein Verhalten öfter zu zeigen.

Natürlich soll das kein Freibrief sein, dass der vermeidende Part sich gar nicht ändern muss. Aber Veränderung gelingt besser in einem Klima von Annahme statt in einem von Vorwürfen. Macht euch klar: Ihr wollt beide gute Eltern sein, ihr habt nur unterschiedliche Stolpersteine auf dem Weg dorthin. Redet auch mal abends in Ruhe über eure jeweiligen Ängste und Wünsche. Vielleicht teilt dein Partner seine Sorge, dass das Kind irgendwann die Distanz spüren und darunter leiden könnte – ohne Vorwurf, einfach als Gefühl. Und du kannst deine Angst mitteilen, als Mutter/Vater nicht gut genug zu sein oder dich in der Elternrolle zu verlieren. Solche Gespräche schaffen gegenseitiges Mitgefühl.

Am Ende sitzt ihr sprichwörtlich im selben Boot: Ihr habt dieses Kind gemeinsam (sofern es eure Situation betrifft) und wollt, dass es glücklich aufwächst. Nutzt die Liebe zum Kind als gemeinsamen Nenner, um Brücken über eure Bindungsstil-Kluft zu bauen. Und vergesst nicht, auch als Paar Nähe zu pflegen – ja, auch das gehört dazu, selbst wenn es schwerfällt. Denn je sicherer und geliebter sich der vermeidende Part in der Partnerschaft fühlt, desto eher kann er/sie auch die enge Verbindung zum Kind aushalten und genießen. Es ist wie ein Muskel, den man trainiert: Nähe zulassen. Ihr könnt als Partner da gegenseitig Trainer und Unterstützer sein.

Aus dem Muster ausbrechen: Schritte zu einer sichereren Bindung

Zum Abschluss wollen wir den Blick nach vorn richten. Du hast nun einen Eindruck davon, wie dein vermeidender Stil die Erziehung beeinflusst – aber was kannst du konkret tun, um alte Muster zu verändern? Hier einige praktische Impulse, die dir helfen können, Schritt für Schritt einen sichereren Bindungsstil in eurer Familie zu etablieren:

  • Bewusste Zeit für Gefühle: Nimm dir im Tagesablauf kleine Fenster, in denen du dich voll auf die Gefühlswelt deines Kindes einlässt. Vielleicht beim abendlichen Kuscheln oder beim gemeinsamen Malen fragst du ganz offen: “Wie war dein Tag heute? Gab es etwas, das dich froh oder traurig gemacht hat?” – und dann hörst du wirklich zu. Lass dein Kind ausreden, nicke, wiederhole in eigenen Worten, was es gesagt hat. Diese Mini-Gespräche signalisieren: “Ich interessiere mich für dein Innenleben.” Es mag banal klingen, aber für dein Kind bedeuten solche Momente die Welt.

  • Aktives Trösten üben: Wenn dein Kind weint oder wütend ist, bleib nach Möglichkeit körperlich und verbal ansprechbar. Nimm es – wenn es das zulässt – in den Arm oder lege eine Hand auf die Schulter. Sag einfache beruhigende Worte wie “Schsch, ist ja gut, ich bin da”. Du musst nicht sofort Lösungen parat haben. Oft reicht stilles Dasein. Anfangs wird es dich vielleicht innerlich zerreißen (viele Vermeidende spüren Hilflosigkeit oder Unbehagen angesichts heftiger Emotionen). Aber je öfter du diese Situationen aushältst, desto souveräner wirst du. Dein Kind wird es dir danken, indem es sich schneller beruhigt und Geborgenheit findet.

  • Lob und Zuneigung zeigen: Vermeidende Eltern neigen dazu, eher Kritik zu äußern als Lob – nicht aus Bosheit, sondern weil sie Gefühle selten überschwänglich ausdrücken. Achte bewusst darauf, deinem Kind regelmäßig etwas Positives zu sagen: “Ich bin stolz auf dich, wie du das gemacht hast.”“Schön, dass es dich gibt.”“Ich hab dich lieb.” Solche Sätze laut auszusprechen, kann für dich neu und seltsam sein, aber sie nähren das Selbstwertgefühl deines Kindes enorm. Gleiches gilt für körperliche Zuneigung: ein Drücken, Durch-die-Haare-Wuscheln, Händehalten. Fang in deinem Komfortbereich an und erweitere ihn langsam.

  • Verlässliche Routinen schaffen: Sicherheit entsteht durch Konsistenz. Als jemand, der Nähe manchmal dosieren muss, hilft es dir und dem Kind, feste Rituale einzuhalten – z.B. immer morgens gemeinsam frühstücken mit einer kurzen Umarmung zum Start in den Tag, oder abends ein Lied vorsingen. Dein Kind kann sich darauf verlassen und fühlt sich damit sicher aufgehoben. Und du gibst Nähe in planbarer Form. Außerdem: Bleib, soweit es geht, berechenbar in deinen Reaktionen. Wenn du heute bei einer Verletzung tröstest, tu das morgen nach Möglichkeit auch, und nicht plötzlich das Gegenteil (außer du erklärst warum). Konsistenz nimmt dem Kind die Angst vor plötzlichen Distanz-Einbrüchen.

  • Eigene Emotionen reflektieren (und regulieren): Arbeite daran, dich selbst besser kennenzulernen in emotionalen Belangen. Wenn du merkst, du wirst dicht oder wütend, nimm das wahr und benenne es zumindest vor dir selbst: “Ich spüre gerade Ärger/Überforderung.” Erlaube dir diese Gefühle bewusst, anstatt sie schlagartig wegzudrücken – denn sonst kommen sie meist später ungefiltert heraus. Überlege dir gesunde Strategien, damit umzugehen: Tief durchatmen, einen Schluck Wasser trinken, für einen Moment gedanklich heraustreten. Je besser du dich selbst regulieren kannst, desto weniger wirst du ins kalte Vermeiden rutschen. Bonus: Du wirst deinem Kind damit ein Modell für den Umgang mit Gefühlen. Kinder lernen viel durch Beobachtung. Wenn sie sehen, dass Papa sich mal kurz sammelt statt laut zu werden, lernen sie, dass Gefühle handhabbar sind.

  • Austausch suchen: Manchmal hilft es ungemein zu wissen, dass man nicht allein ist. Überlege, dich mit anderen Eltern – vielleicht sogar speziell solchen mit Bindungsangst – auszutauschen. Foren, Selbsthilfegruppen oder Kommentare unter Blogbeiträgen können Einblicke geben, wie andere an ähnlichen Stellen arbeiten. Auch Gespräche mit vertrauten Personen (eigenen Geschwistern, Freunden) über die Schwierigkeiten in der Elternschaft können entlasten. Oft stellt man fest: Perfekte Eltern gibt es nicht, jeder hat seine Baustellen. Das nimmt Druck von deinen Schultern und hilft dir, dich realistisch zu verbessern, statt unproduktive Selbstvorwürfe zu pflegen.

  • Professionelle Unterstützung annehmen: Wie schon erwähnt, kann eine Therapie oder Eltern-Coaching sehr wertvoll sein. Ein unbeteiligter Profi kann mit dir gezielt an deinen Bindungsmustern arbeiten und praktische Übungen mitgeben. Es gibt auch Elternkurse, die sich mit emotionaler Kommunikation beschäftigen (z.B. Kurse zur Emotionellen Erste Hilfe, Eltern-Kind-Bindungskurse etc.). Sich Hilfe zu holen, ist kein Zeichen von Versagen – im Gegenteil: Es zeigt, dass dir die Beziehung zu deinem Kind so wichtig ist, dass du daran arbeitest. Studien und Experten betonen immer wieder: Man kann seinen Bindungsstil im Erwachsenenalter ändern oder zumindest in Richtung sicherer verschieben, wenn man bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Du bist also keinem Schicksal ausgeliefert!

Zum Schluss ist mir eines noch wichtig: Sei nachsichtig mit dir selbst. So ein Wandel passiert nicht über Nacht. Wahrscheinlich wirst du auf dem Weg Rückschläge erleben. Du wirst Tage haben, da fällst du in alte Muster – vielleicht schnauzt du dein Kind an, obwohl du eigentlich einfühlsam reagieren wolltest, oder du kapselst dich ab, obwohl du mehr Nähe geben wolltest. Nimm diese Ausrutscher nicht als Anlass, um dich fertigzumachen. Veränderung verläuft in Wellen. Entscheidend ist die Tendenz: Und die steht gut, sobald du überhaupt angefangen hast, dich mit deinem Verhalten auseinanderzusetzen (denn viele schaffen nicht mal das).

Jedes kleine bisschen mehr an Wärme, das du deinem Kind gibst, macht einen Unterschied. Kinder sind unglaublich feinfühlig und zugleich verzeihend – sie spüren deine Bemühungen. Vielleicht nicht in Worten, aber in ihrer sicheren Ausstrahlung, in ihrem Lachen, in diesen Momenten, wo sie sich an dich kuscheln und du das erste Mal denkst: “Hey, so schlimm fühlt es sich gar nicht an. Irgendwie… schön.” Diese Momente werden häufiger werden, je mehr du dich traust, dein Herz zu öffnen.

Du bist nicht allein auf dieser Reise. Viele Eltern mit vermeidendem Bindungsstil stehen vor den gleichen Herausforderungen. Es gibt kein perfektes Rezept, aber es gibt einen Weg, der Schritt für Schritt herausführt aus dem emotionalen Schneckenhaus. Am Ende des Tages wollen wir alle unseren Kindern das Gefühl geben, geliebt und geborgen zu sein. Du hast die Fähigkeit dazu – sonst würdest du diesen langen Artikel vermutlich nicht bis hier gelesen haben. Hab Vertrauen in dich selbst. Es ist nie zu spät für einen neuen Kurs. Dein Kind braucht dich – nicht als makelloses Ideal, sondern als menschlichen, reflektierten, liebenden Elternteil. Indem du dich deinen eigenen Ängsten stellst und an deiner Verfügbarkeit arbeitest, schenkst du ihm das größte Geschenk: eine Beziehung, die von Verständnis, Vertrauen und echter Nähe geprägt ist.

Du und dein Kind, ihr habt es verdient. ❤️

Alle Quellen aus dem Beitrag:

  1. Firestone, Lisa – How Your Attachment Style Affects Your Parenting, Psychology Today (2015). (Beschreibung des vermeidenden/dismissiven Erziehungsstils: Eltern erfüllen zwar Grundbedürfnisse, bleiben aber auf emotionaler Ebene distanziert – für das Kind fühlt es sich an, als seien die Eltern ein „emotionales Wüsteneiland“, und das Kind lernt, seine Bedürfnisse zu unterdrücken) psychologytoday.com.

  2. Lüdin, Cyril – Bindungsmodelle in der frühen Mutter-Kind-Beziehung, eltern-kind-bindung.net (Abruf 2025). (Fachartikel über sichere und unsichere Bindungsmuster; beschreibt, dass Eltern, die selbst ohne ausreichende emotionale Zuwendung aufwuchsen, oft verschlossen und unsensibel sind. Ihre Kinder erleben fehlende emotionale Verfügbarkeit der Bezugsperson, haben keine sichere Basis und entwickeln einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil) eltern-kind-bindung.net.

  3. Brosche, H. & Emir, E. – Erziehung und Bindung: Wenn der Halt fehlt, Magazin SCHULE (2022). (Praxisbericht aus der Schule über Bindungsmuster. Beschreibt u.a. die unsicher-vermeidende Bindung: Das Kind fühlt sich mit seinen Problemen alleine gelassen, die Bezugsperson weist seine Signale zurück und pocht stark auf die Autonomie des Kindes – es soll alles alleine schaffen. Enthält auch ein Beispiel, in dem eine Mutter nach dem leichten Sturz des Kindes keine Beachtung schenkt bzw. schimpft, was die Unterschiedlichkeit zu einer empathischen Reaktion verdeutlicht) magazin-schule.de.

  4. Perry, Christin – What Avoidant Attachment Means for Your Child’s Development, Parents Magazine (Online-Ausgabe, Jan. 2025). (Übersichtsartikel zu Ursachen und Anzeichen von vermeidender Bindung bei Kindern. Führt elterliche Verhaltensweisen an, die dazu beitragen können: z.B. inkonsistente oder fehlende emotionale Unterstützung, starkes Kritisieren, Nicht-Reagieren auf Weinen, Gleichgültigkeit gegenüber Problemen des Kindes. Zitiert eine Psychologin, die schildert, dass emotional vernachlässigte Kinder oft hören, sie sollen „nicht so dramatisch sein“ und lernen, ihre Gefühle herunterzuspielen) parents.com.

  5. Der vermeidende Bindungsstil – Blog (Markus Hirndorf): Trigger & Beziehungsangst verstehen (Abruf 2025). (Beitrag auf der eigenen Webseite, der die Entstehung von Bindungsangst erläutert. Relevanter Auszug: Eltern von unsicher-vermeidenden Kindern waren oft streng, distanziert oder überfordert mit den Emotionen des Kindes. Sätze wie „Stell dich nicht so an! Reiß dich zusammen!“ signalisierten dem Kind, dass seine Gefühle unerwünscht sind – es lernt, Emotionen zu unterdrücken, was die Basis für den vermeidenden Stil im späteren Leben legt)
    der-vermeidende-bindungsstil.de.

  6. Willems, Walter – Das Erbe der Empathie, Tagesspiegel (26.05.2024). (Bericht über eine 25-Jahre-Studie zur Weitergabe von Empathiefähigkeit über Generationen. Zentrale Erkenntnis: Eltern prägen die Empathie ihrer Kinder durch ihr Vorbild. Zitat der Entwicklungspsychologin Jessica Stern: „Wenn wir empathische Kinder erziehen wollen, müssen wir ihnen direkte Erfahrungen geben, verstanden und unterstützt zu werden.“ Die Empathie der Mütter gegenüber ihren 13-jährigen Kindern sagte deren Empathie in Freundschaften voraus und später auch ein unterstützendes Erziehungsverhalten der nun erwachsenen Kinder gegenüber deren Nachwuchs) tagesspiegel.de.

  7. Integrative Life Center – Fearful Avoidant Attachment: Breaking the Cycle as Parents (Blog, Feb. 2024). (Artikel über Wege, als unsicher-vermiedend/furchtsam gebundener Elternteil eine sichere Bindung aufzubauen. Empfiehlt u.a. positive Parenting-Techniken: Konsistenz, körperliche Zuwendung, aktives Zuhören, Vorbild in emotionaler Regulierung. Betont, dass jede Generation die Chance hat, destruktive Muster zu erkennen und durch neue, gesündere zu ersetzen, statt sie an die Kinder weiterzugeben) integrativelifecenter.com.

  8. Firestone, Lisa – Compassion Matters: Changing Your Attachment Style, Psychology Today (2015). (Erklärt, dass unser eigenes Bindungsmuster zwar aus der Kindheit stammt, aber nicht in Stein gemeißelt ist. Sich mit den schmerzhaften Teilen der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und ggf. therapeutische Hilfe zu suchen, kann helfen, sein Arbeitsmodell von Beziehungen zu verändern. Mit Selbstmitgefühl und reflektierter Aufarbeitung kann man Schritt für Schritt in Richtung einer sicheren Bindung wachsen – was einen besseren Zugang zu den eigenen Kindern ermöglicht) psychologytoday.com.

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Der Unterschied zwischen unsicher-vermeidender und ängstlich-vermeidender Bindung