Vermeidender Bindungsstil – warum Heilung nur zu zweit gelingt
Vielleicht kennst du das Gefühl: Du wünschst dir Nähe und Geborgenheit – und sobald dir ein Mensch diese tatsächlich geben will, ergreifst du die Flucht.
Vermeidende Bindungstypen stehen genau in diesem Zwiespalt. Einerseits sehnen sie sich tief im Inneren nach einer liebevollen Beziehung, andererseits macht ihnen genau diese Nähe große Angst. Das führt dazu, dass sie oft ausgerechnet gesunde, stabile Beziehungen meiden, obwohl dort Heilung möglich wäre. Für ihre Partner ist das ebenso schmerzhaft:
Sie erleben Zurückweisung, obwohl sie dem geliebten Menschen doch nur zeigen möchten, dass Beziehung etwas Schönes und Sicheres sein kann.
In diesem Blogbeitrag schauen wir uns ausführlich an, warum vermeidende Menschen gesunde Beziehungen oft unbewusst sabotieren – und warum gerade eine solche Beziehung der Schlüssel zur Heilung sein kann. Was braucht es, damit jemand mit einem vermeidenden Bindungsstil alte Ängste überwinden kann? Und welche Rolle spielt der Partner dabei? Wir beleuchten die Voraussetzungen und notwendigen Schritte auf dem Heilungsweg – für beide Seiten. Dabei bleiben wir sachlich, aber einfühlsam. Wenn du dich selbst in dem vermeidenden Muster erkennst oder mit jemandem zusammen bist, der Nähe immer wieder vermeidet, soll dir dieser Artikel Mut machen: Bindungsängste müssen kein Dauerzustand bleiben. Heilung ist möglich – und du musst den Weg nicht alleine gehen.
Warum vermeiden Vermeidende gesunde Beziehungen?
Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil wirken nach außen oft autonom, unabhängig und cool. Innerlich jedoch sieht es anders aus: Dort sitzt meist die tiefe Überzeugung, im Kern nicht wirklich liebenswert zu sein, und eine große Angst vor Zurückweisung. Nähe fühlt sich für Vermeidende gefährlich an – Distanz dagegen vermittelt Sicherheit. Diese Grundhaltung stammt fast immer aus frühen Erfahrungen. Als Kind haben viele Vermeidende gelernt: „Wenn ich Bedürfnisse zeige, werde ich abgelehnt. Also brauche ich niemanden.“. Dieses Muster setzt sich unbewusst im Erwachsenenalter fort. Sobald jemand ihnen wichtig wird, schlägt innerlich Alarm an: „Pass auf, traue niemandem – sonst wirst du verletzt!“.
Die paradoxe Folge: Vermeidende wollen Liebe, können sie aber nur schwer annehmen. Eine tiefe Bindung wäre eigentlich genau das, was ihnen fehlt – doch zugleich können sie ebendiese Nähe „nicht aushalten“. Um sich vor der als überwältigend empfundenen Verletzlichkeit zu schützen, entwickeln sie Strategien, eine Beziehung auf Distanz zu halten. Viele flüchten sich in Arbeit, Hobbys oder sogar Affären, um intensive Nähe zu vermeiden. Sie bleiben zwar in Beziehungen, aber immer mit angezogener Handbremse. Beispielsweise verbringen sie viel Zeit im Job unter dem Vorwand, „für die Familie“ zu arbeiten – tatsächlich ist es eine gesellschaftlich anerkannte Ausrede, um emotional auf Abstand zu bleiben. Auch unverbindliche Affären werden von Vermeidenden manchmal genutzt, um die Hauptbeziehung nicht zu tief werden zu lassen. Nach außen mögen solche Personen beteuern, die Affäre „bedeute nichts“ – aus ihrer Sicht stimmt das sogar, denn der Zweck war nicht neues Glück zu finden, sondern vorhandene Nähe zu ihrem Partner zu entschärfen.
Vermeidende sind mit diesen Mechanismen selbst oft unglücklich. Sie sabotieren genau das, was sie sich insgeheim wünschen. Die tiefe Geborgenheit und Vertrautheit, nach der sie sich sehnen, bleibt aus – denn sie lassen niemanden nah genug an sich heran. Die innere Leere, die dadurch entsteht, versuchen sie häufig wegzudrücken oder zu betäuben, z.B. durch exzessive Arbeit, Extremsport oder andere Ablenkungen. All das sind Bewältigungsstrategien, um mit dem inneren Stress fertigzuwerden, den Nähe in ihnen auslöst.
Doch warum meiden Vermeidende gerade gesunde, sichere Beziehungen so sehr? Müsste es nicht eigentlich leichter sein, bei einem liebevollen, stabilen Partner Vertrauen zu fassen? Ironischerweise empfinden Menschen mit unsicherer Bindung einen wirklich verlässlichen, sicher gebundenen Partner oft als „langweilig“. Das klingt zunächst seltsam – doch bedenkt man ihre Lerngeschichte, wird es verständlich. Viele Vermeidende (und auch andere unsicher Gebundene) haben Beziehung vor allem als Drama kennengelernt: ein ständiges Auf und Ab von Nähe und Rückzug, Spannung, Unsicherheit. Ihr Nervensystem ist an dieses Auf und Ab gewöhnt. Begegnen sie nun einem Partner mit einem sicheren Bindungsstil, der berechenbar, geduldig und konfliktscheu ist, löst das bei ihnen keine vertrauten emotionalen Höhen und Tiefen aus. Ohne Chaos, Eifersucht oder „Kampf“ um Liebe fühlt es sich für sie ungewohnt und reizlos an. In der Praxis hört man dann Sätze wie: „Eigentlich ist er/sie perfekt, immer liebevoll und treu – aber irgendwie fehlt mir etwas, es funkt nicht richtig.“ Dieses „Etwas“, das fehlt, ist aus Sicht des unsicher Gebundenen das altbekannte Gefühlschaos. Stabilität und Verlässlichkeit werden unbewusst mit Langeweile gleichgesetzt.
Hinzu kommt: Je näher und harmonischer eine Beziehung wird, desto größer die Angst des Vermeidenden. Oft tritt genau dann, wenn alles gerade „perfekt“ läuft, plötzlich ein starker Rückzugsimpuls auf. Ein typisches Muster ist das „Komm her – geh weg“-Spiel: Nach einem schönen gemeinsamen Wochenende voller Intimität reagiert der vermeidende Partner plötzlich kühl, braucht „Zeit für sich“ und stößt den anderen vor den Kopf. Was ist passiert? Die intensive Nähe hat sein Alarmsystem getriggert: „Jetzt könnte ich mich wirklich binden – und damit verletzlich machen.“ Aus Selbstschutz zieht er sich zurück. Für den Partner wirkt das widersprüchlich und verletzend. In Wahrheit liegt es nicht an mangelnder Liebe, sondern an der Panik, die echte Vertrautheit auslösen kann.
Vermeidende neigen auch dazu, Fehler beim Partner zu suchen oder Gründe zu konstruieren, warum eine Beziehung nicht passt, sobald es ernster wird. Kleinigkeiten – die Art zu reden, kleine Marotten – werden plötzlich zu „guten Gründen“, auf Distanz zu gehen. Dies ist eine unbewusste Deaktivierungsstrategie: Indem man sich auf die Makel des anderen fokussiert, bleibt die eigene Bindungsangst unangetastet. Man überzeugt sich selbst davon, dass man ja gar nicht wirklich nahe sein will, weil der Partner angeblich nicht „der Richtige“ ist. Dahinter steckt oft, wie die Psychologin Stefanie Stahl beschreibt, eine tiefe Resignation: Die bindungsängstliche Person glaubt insgeheim, sowieso nicht das zu bekommen, was sie braucht – diese Enttäuschung ist so unerträglich, dass die Psyche sie in ein „Ich will das ja gar nicht“ umdreht. Nach dem Motto: Was ich mir erst gar nicht wünsche, kann mich auch nicht enttäuschen. So schafft man Distanz, bevor überhaupt echte Verletzlichkeit entstehen könnte.
Zusammengefasst meiden Vermeidende gesunde Beziehungen also nicht, weil ihnen Geborgenheit unwichtig wäre, sondern weil sie unbewusst überzeugt sind, dass echte Nähe immer gefährlich oder unerfüllbar ist. Sie fühlen sich überfordert von Beziehungen, in denen Verbindlichkeit gefordert ist, und ziehen unbewusst Konstellationen vor, die Distanz erlauben. Nicht selten landen sie in Partnerschaften mit ebenfalls unsicher gebundenen Menschen – z.B. mit ängstlich-klammernden Partnern. Diese Dynamik kann anfangs aufregend wirken (die berühmte „magnetische“ Anziehung von Vermeider und Ängstlichem), endet aber oft in einem toxischen Kreislauf: Der eine klammert aus Verlustangst, der andere flieht vor zu viel Nähe. Beide bedienen damit gegenseitig ihre negativen Erwartungen – und bestätigen sich unbewusst: „Siehste, Beziehungen tun weh.“ In so einem Umfeld kann der Vermeidende seine Angst natürlich nicht heilen, im Gegenteil. Das Drama bestärkt nur die alte Programmierung: Nähe = Schmerz.
Die gute Nachricht ist: Es gibt einen Ausweg aus diesem Teufelskreis. Doch dieser Ausweg führt nicht an Beziehungen vorbei, sondern mitten durch sie hindurch. Genau das schauen wir uns im nächsten Abschnitt an.
Heilung in der Beziehung: Warum es zwei braucht
Bindungsängste und Vermeidungsverhalten entstehen in Beziehungen – meist in der allerersten Beziehung unseres Lebens, der zu den Eltern. Ein Kind, das emotionale Zurückweisung oder Unberechenbarkeit erlebt hat, entwickelt tief verankerte Glaubenssätze darüber, wie sicher oder unsicher zwischenmenschliche Nähe ist. Diese verletzten inneren Anteile begleiten uns ins Erwachsenenalter. Verletzungen, die in Beziehungen entstanden sind, können auch nur in Beziehungen wirklich heilen. Warum? Weil unser „Beziehungssystem“ – unser Vertrauen, unsere Fähigkeit, uns auf jemanden zu verlassen – nicht durch Grübeln im stillen Kämmerlein umprogrammiert wird, sondern durch neue Erfahrungen.
Nichts heilt Bindungsangst allein im Kopf. Heilung entsteht durch echte Verbindung – in Gesprächen, in kleinen Momenten von Vertrauen, Schritt für Schritt.
Dieser Satz aus der Stefanie-Stahl-Akademie bringt es auf den Punkt. Ein Mensch mit vermeidendem Bindungsstil kann noch so viel theoretisch über seine Muster verstehen
(und Selbsterkenntnis ist wichtig, keine Frage). Aber die eigentliche Angst – die panische Alarmreaktion auf Nähe – sitzt tiefer als der Verstand. Sie wohnt im emotionalen Gehirn, im Nervensystem, das über Jahre gelernt hat: „Wenn du dich öffnest, wirst du verletzt.“ Um dieses Alarmprogramm umzuschreiben, braucht es wiederholte Gegenbeispiele: Momente, in denen Nähe statt Gefahr tatsächlich Sicherheit und Geborgenheit bringt. Solche korrigierenden Erfahrungen finden in einer wirklich gesunden, stabilen Beziehung statt.
Man kann sich das vorstellen wie eine Phobie: Jemand, der panische Angst vor Hunden hat, kann Bücher darüber lesen, woher das kommt – die Angst selbst schmilzt erst, wenn er die Erfahrung macht, dass ein freundlicher Hund ihm nichts tut. Genauso muss ein Vermeidender erleben, dass Nähe nicht im Desaster enden muss, dass ein geliebter Mensch bleiben und verlässlich sein kann. Jede kleine Situation, in der er verletzlich war und nicht zurückgewiesen wurde, in der es vielleicht sogar schön war, intim zu sein, liefert dem Gehirn neue Daten: „Vielleicht bedeutet Nähe doch nicht automatisch Schmerz.“ Diese heilsame Gegen-Erfahrung ist das, was nach und nach die alten Überzeugungen lockert.
Ein zentraler heilsamer Faktor ist dabei ein Partner, der als „sicherer Hafen“ fungieren kann. Damit ist nicht ein perfekter Mensch gemeint, sondern jemand, der konsistent, einfühlsam und geduldig genug ist, um dem Vermeidenden zu zeigen: Ich bin da, auch wenn du dich mal zurückziehst. Ich nehme dich ernst, aber ich lasse mich von deiner Angst nicht wegstoßen. Wenn der vermeidende Part in einer Beziehung immer wieder erlebt, dass sein Partner verlässlich bleibt und liebevoll reagiert, selbst wenn er selber schwankt, baut sich allmählich Vertrauen auf. Wichtig: Das heißt nicht, dass der Partner endlos alles ertragen muss (dazu später mehr). Aber eine konstante, ausgeglichene Präsenz des Gegenübers hilft enorm. Je sicherer und stabiler die Beziehungserfahrung, desto eher kann der Vermeidende sich im Laufe der Zeit öffnen.
Heilung „zu zweit“ bedeutet jedoch nicht, dass der Partner den Vermeidenden rettet oder dessen innere Arbeit übernimmt. Keinesfalls genügt es, wenn der Partner sich nur genug anstrengt, liebevoll genug ist, dann würde alles von allein gut. Viele Partner von Bindungsängstlichen versuchen genau das – aus der Hoffnung heraus, man könne die Bindungsangst des anderen mit genug Liebe einfach „wegstreicheln“. Doch so funktioniert es leider nicht. Die Ängste sitzen tief und wurden nicht vom aktuellen Partner verursacht; folglich kann dieser sie auch nicht einfach eliminieren. Weder Liebe noch Logik des Partners allein können die alten Wunden vollständig heilen – heilen kann sie nur der Bindungsängstliche selbst, indem er sich Schritt für Schritt auf Nähe einlässt. Aber: Der Partner kann den nötigen sicheren Rahmen bieten, damit diese Schritte überhaupt möglich werden.
Man könnte sagen: Der Vermeidende muss durch die Tür der Nähe hindurchgehen – aber der Partner kann die Tür aufhalten und den Raum dahinter freundlich gestalten. Konkret heißt das: Das Tempo der Annäherung an Vertrauen richtet sich nach dem, was der Ängstliche verkraften kann. Jeder kleine Vertrauensbeweis sollte vom Partner bestätigt und nicht ausgenutzt werden. Wenn z.B. jemand mit Bindungsangst es wagt, ein verletzliches Gefühl zu zeigen oder ein Bedürfnis zu äußern, ist es enorm wichtig, dass der Partner damit behutsam umgeht – etwa nicht mit Kritik reagiert, nicht lacht, sondern ernst nimmt, was geteilt wurde. So erfährt der Vermeidende: „Ich kann mich zeigen, ohne beschämt oder abgelehnt zu werden.“ Das sind die kleinen heilenden Momente, die im Nervensystem etwas neu justieren.
Auch Rückschläge gehören dazu: Der Weg verläuft selten linear. Wahrscheinlich wird der bindungsängstliche Mensch zwischendurch immer wieder in alte Muster fallen – vielleicht nach ein paar Wochen enger Vertrautheit plötzlich einen kalten Rückzug antreten oder unerwartet Streit vom Zaun brechen, einfach weil ihm alles „zu viel“ wird. Diese Phasen sind kritisch: Sie entscheiden, ob die Heilung voranschreitet oder das Muster sich verhärtet. Hier zeigt sich die Bedeutung des „zu zweit“: Allein würde der Vermeidende jetzt einfach weglaufen und das war’s – die Erfahrung
„Nähe = Gefahr“ bliebe stehen. Mit einem engagierten Partner kann die Situation anders ausgehen. Idealerweise signalisiert der Partner: „Ich merke, du hast dich zurückgezogen. Ich gebe dir Raum – aber ich bin da, wenn du zurückkommen magst.“ Er könnte z.B. ruhig mitteilen, dass er den Rückzug spürt und dass er bereit ist, zu reden, wenn der andere soweit ist, ohne Vorwürfe (sofern natürlich kein grenzverletzendes Verhalten stattfand). Dadurch erlebt der Vermeidende vielleicht zum ersten Mal, dass auf seinen Rückzug nicht automatisch Eskalation oder endgültige Trennung folgt, sondern Verständnis und Beständigkeit. Das Vertrauen wächst: Der andere bleibt, auch wenn ich mich mal zurückziehe.
Ein weiterer Aspekt: Neue Bindungserfahrungen können auch in therapeutischen Beziehungen gemacht werden. Eine Therapie oder Paarberatung bietet einen geschützten Rahmen, in dem ebenfalls Beziehung erlebt wird – nämlich zwischen Klient und Therapeut oder im geschützten Dialog des Paares. Therapeut*innen (insbesondere solche, die auf Bindungstrauma spezialisiert sind) wissen, dass Bindungsangst durch wiederholte, sichere Beziehungserfahrungen überwunden werden kann. Oft übernehmen sie zunächst die Rolle des sicheren Gegenübers, um dem Bindungsängstlichen zu zeigen: Ich verurteile dich nicht, ich laufe nicht weg, egal welche Gefühle auftauchen. Auch das kann der erste Schritt sein, bevor jemand diese Sicherheit in einer Partnerschaft umsetzen kann. Scheut euch also nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen – es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Mut, sich Unterstützung zu holen. Gerade Paare mit ausgeprägten Muster-Dynamiken (z.B. Vermeider + Ängstlicher im Teufelskreis) profitieren enorm von einer Paartherapie, weil ein neutraler Blick von außen hilft, aus den eingefahrenen Reaktionen auszubrechen.
Letztlich läuft alles darauf hinaus: Heilung passiert in der Beziehung, aber nur, wenn beide bewusst daran mitwirken. Der Vermeidende muss bereit sein, sich auf das Abenteuer echter Nähe einzulassen – und der Partner muss bereit sein, einen sicheren Rahmen dafür mitzugestalten. Was es dafür im Einzelnen braucht, schauen wir uns jetzt an.
Voraussetzungen für den gemeinsamen Heilungsweg
Bevor Heilung „zu zweit“ stattfinden kann, braucht es auf beiden Seiten ein grundlegendes Ja zu diesem Prozess. Für den Menschen mit vermeidendem Bindungsstil bedeutet das vor allem Einsicht und Bereitschaft, sich den eigenen Ängsten zu stellen. Für den Partner bedeutet es Verständnis und Geduld, ohne die es nicht geht. Schauen wir uns beide Perspektiven näher an.
Selbsterkenntnis und Mut beim Vermeidenden
Der erste Schritt für jemanden mit Bindungsangst ist meist, überhaupt anzuerkennen, dass da eine Angst ist. Solange man vor sich selbst leugnet, ein Problem zu haben („Ich bin halt ein Einzelgänger“, „Ich habe nur noch nicht den Richtigen getroffen“ etc.), bleibt man im alten Muster gefangen. Viele Vermeidende merken erst nach wiederholten Beziehungsscheitern oder im Zuge großer Einsamkeit, dass die eigene innere Haltung etwas damit zu tun hat. Nicht selten kommt diese Einsicht spät: Bindungsvermeider entscheiden sich oft erst in der zweiten Lebenshälfte, ihre alten Wunden aufzuarbeiten. Das liegt, wie bereits erwähnt, daran, dass ihr Leidensdruck lange geringer scheint – man arrangiert sich ja mit dem Alleinsein oder oberflächlichen Beziehungen. Doch irgendwann holt einen die tiefe Sehnsucht nach echter Verbindung doch ein. Vielleicht geht eine wichtige Beziehung in die Brüche, oder man spürt in einer Lebenskrise plötzlich, wie allein man sich eigentlich fühlt. Dieser Schmerz kann zum Weckruf werden.
Wenn ein Vermeidender an dem Punkt ist zu sagen „Ich möchte etwas ändern“, ist das entscheidend – denn ehrlicher Wille zur Selbstreflexion und Veränderung ist die Grundvoraussetzung für Heilung. Ohne diesen eigenen Antrieb nutzt die beste Partnerunterstützung nichts. Man muss bereit sein, sich ohne akute Not den Ängsten zu stellen, denen man bislang aus dem Weg gegangen ist. Das erfordert Mut. Es heißt zum Beispiel: sich einlassen, obwohl es im Bauch zieht; bewusst nicht weglaufen, wenn man eigentlich wegrennen will; hinschauen, wo man sonst verdrängt.
Zu dieser Bereitschaft gehört auch, Verantwortung für die eigenen Gefühle und Verhalten zu übernehmen. Solange ein Bindungsängstlicher insgeheim die Schuld nur beim Partner sucht
(„Wäre er nicht so fordernd, hätte ich kein Problem“ oder „Immer suche ich mir halt die Falschen aus“), bleibt er machtlos. Verantwortung übernehmen heißt dagegen zu erkennen:
Mein Muster wird bei jedem Partner auftauchen, egal wie toll er oder sie ist. Es ist mein Thema, also liegt es an mir, daran zu arbeiten. Diese Haltung ist wichtig, um aus der Opferrolle
(„ich bin halt so“) herauszukommen und in die aktive Veränderung zu gehen.
Selbsterkenntnis ist eine weitere essentielle Zutat. Dazu gehört, die eigenen typischen Vermeidungsstrategien und Trigger genauer kennenzulernen. Wann genau taucht das Unwohlsein auf? Bei welchen Situationen oder Gesten des Partners spüre ich Widerstand? Ist es, wenn der andere über Zukunft redet? Oder wenn er zu oft Zärtlichkeit einfordert? Oder vielleicht, wenn ich mich enttäuscht oder eingeengt fühle? Je besser man die Alarmknöpfe kennt, desto mehr kann man sich im Ernstfall selbst regulieren. Stefanie Stahl empfiehlt beispielsweise, genau hinzuschauen, welche Situationen das diffuse Unbehagen oder die plötzliche Abneigung auslösen – und zu erkennen, dass dahinter alte Erinnerungen an Ausgeliefertsein stecken. Das nächste Mal, wenn du merkst „Ich halte es gerade nicht aus, ich will weg“, kannst du innerlich einen Schritt zurücktreten und feststellen: Aha, jetzt ist mein inneres Kind getriggert und schreit „Hilfe, ich verliere mich“. Aber heute bin ich erwachsen – ich werde nicht ausgeliefert sein wie damals. Diese bewusste Selbstberuhigung ist ein wichtiger Schritt. Mach dir immer wieder klar: Eine liebevolle Beziehung ist heute keine existenzielle Bedrohung mehr, sondern kann etwas Schönes und Freiwilliges sein. Du bist nicht mehr das machtlose Kind von einst.
Ein großes Thema für Bindungsängstliche ist auch die Angst vor Erwartungen und Forderungen. Viele Vermeidende reagieren extrem allergisch, wenn sie glauben, der Partner wolle etwas von ihnen, was sie nicht leisten können oder wollen – sei es mehr Zeit, eine Änderung ihres Verhaltens, irgendeine Form von „einengen“. Das rührt daher, dass sie oft früh lernen mussten, sich anzupassen, und nun auf Autonomie pochen. Hier hilft es ungemein, sich klarzumachen: Ein gesunder Kompromiss ist kein Weltuntergang. In Beziehungen gibt es ein Spektrum zwischen totaler Selbstaufgabe und sturer Kompromisslosigkeit – und darin darf man sich bewegen. Nicht jede Bitte des Partners ist eine Gefahr für die eigene Freiheit. Du darfst lernen, kleine Zugeständnisse als Liebesbeweise zu sehen und nicht als „Aufgabe deiner Selbst“. Genauso darfst du lernen, „Nein“ zu sagen, ohne gleich in Panik zu verfallen, der andere würde dich dann verlassen. Diese Differenzierungen lernt man aber erst, wenn man sich überhaupt auf die Situation einlässt, in der Erwartungen auftauchen könnten – also in der Beziehung selbst.
Schließlich braucht es beim Vermeidenden Geduld mit sich selbst und eine ordentliche Portion Selbstmitgefühl. Jahrzehntealte Bindungsmuster ändern sich nicht über Nacht. Sei also nicht entmutigt, wenn du trotz aller Vorsätze zwischendurch wieder dicht machst oder in alte Verhaltensweisen fällst. Wichtig ist, sich dann nicht selbst fertigzumachen. Viele Vermeidende tragen viel Scham in sich und einen harten inneren Kritiker („Mit mir stimmt was nicht, ich bin defekt“). Diese innere Stimme gilt es liebevoll ruhigzustellen. Mach dir bewusst: Dein Bindungsstil war einst eine Schutzstrategie, kein persönliches Versagen. Du hast damals getan, was nötig war, um emotional zu überleben. Jetzt darfst du neue Wege probieren – und dabei auch mal scheitern. Jeder Rückfall bietet die Chance zu verstehen, was dich getriggert hat, und es beim nächsten Mal anders zu versuchen. Verzeih dir Rückschritte, so wie du einem guten Freund verzeihen würdest. Diese freundliche Haltung zu dir selbst macht es viel eher möglich, dass du dranbleibst und dich öffnest, als wenn du dich nach jedem „Fehler“ selbst beschimpfst.
Verständnis und Geduld beim Partner
Kommen wir zur anderen Seite: dem Partner oder der Partnerin eines Menschen mit Bindungsangst. Deine Rolle ist ebenso wichtig für den gemeinsamen Heilungsweg – aber auch anspruchsvoll. Es erfordert große Stärke, Liebe und Geduld, jemanden zu begleiten, der immer wieder auf Distanz geht. Zunächst einmal ist Wissen Macht: Informiere dich über den vermeidenden Bindungsstil, lies Artikel (so wie diesen) oder Bücher darüber. Je besser du verstehst, warum dein Partner sich so verhält, desto weniger wirst du es persönlich nehmen. Denn das ist entscheidend: Nimm seine Rückzüge und Ängste nicht als Zeichen deines Versagens. Wenn dein Partner Nähe vermeidet, hat das in aller Regel nichts damit zu tun, dass du etwas falsch machst oder nicht liebenswert genug wärst. Es ist sein Muster, das bei jedem Partner ähnlich auftauchen würde, weil es aus seiner eigenen Geschichte stammt. Sich das klarzumachen, schützt dich davor, in Selbstzweifel zu versinken. Viele Partner von Bindungsängstlichen entwickeln nämlich mit der Zeit ein angeknackstes Selbstwertgefühl, weil sie die Zurückweisung persönlich nehmen
(„Würde er mich wirklich lieben, würde er doch gern Zeit mit mir verbringen“). Doch der Rückzug deines Partners bedeutet in den meisten Fällen:
Er hat Angst – nicht: du genügst nicht. Diese Unterscheidung hilft dir, nicht in die Spirale aus Gekränktheit und Vorwürfen zu geraten, die alles meist nur schlimmer macht.
Natürlich heißt das nicht, dass du alle Verhaltensweisen einfach hinnehmen musst, ohne deine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Auch der geduldigste Partner hat Grenzen, und die dürfen und sollen kommuniziert werden. Es geht nicht darum, dich komplett dem Muster des anderen zu unterwerfen. Vielmehr geht es um eine bewusste Balance: Du zeigst Verständnis für die Angst deines Partners, und du stehst gleichzeitig zu deinen Bedürfnissen nach Nähe und Verbindlichkeit. Mit anderen Worten: Empathie, ohne Selbstaufgabe.
Was bedeutet das konkret? Ein paar Leitlinien:
Drück deine Gefühle klar, aber ruhig aus. Wenn dich das Hin und Her deines Partners verletzt oder verunsichert, sprich es an – aber ohne Vorwürfe im Ton. Zum Beispiel: „Wenn du dich so zurückziehst, fühle ich mich allein und habe Angst, dir nicht wichtig zu sein.“ Das ist ehrlich, aber nicht anklagend. Vermeidende können mit indirekten Andeutungen oder emotionalen Ausbrüchen schlecht umgehen; sie brauchen eine sachliche, direkte Kommunikation. Sag also, was du brauchst, in Ich-Botschaften und möglichst nüchtern. Viele Bindungsängstliche schätzen Klarheit sehr, weil sie selbst Schwierigkeiten haben, Bedürfnisse zu erraten. Wenn du deinem Partner deutlich sagst „Ich wünsche mir einmal pro Woche einen festen Abend nur für uns“ anstatt schmollend zu erwarten, er müsse das von allein merken, nimmst du ihm eine Menge Druck und Rätselraten ab.
Signalisiere deine Bereitschaft, Schritt für Schritt zu gehen. Mach deinem Partner deutlich, dass du nicht verlangst, sofort alle Mauern einzureißen. Zum Beispiel kannst du sagen:
„Ich weiß, dass du Zeit für dich brauchst. Die sollst du haben. Vielleicht können wir trotzdem versuchen, uns z.B. jeden Sonntag für ein Stündchen wirklich auszutauschen, damit ich mich besser aufgehoben fühle? Danach kannst du gern wieder Zeit allein haben.“ So ein Vorschlag zeigt: Du respektierst sein Tempo, aber ihr schafft zugleich einen festen Verbindungspunkt, der Sicherheit gibt. Wichtig ist, dass beide gewinnen: Er bekommt die Zeit für sich, du bekommst verbindliche Nähezeiten.Respektiere die Rückzugsbedürfnisse deines Partners – bis zu einem fairen Grad. Wenn er nach einem langen Tag erstmal allein joggen gehen oder eine Stunde Ruhe will, nimm es nicht persönlich. Viele Vermeidende brauchen diese Zeit, um inneren Druck abzubauen, bevor sie sich wieder auf Zweisamkeit einlassen können. Erlaube ihm diese Atempausen, denn sie bedeuten meist nicht Ablehnung, sondern sind ein Ventil. Gleichzeitig könnt ihr darüber reden, wie lange solche Phasen dauern dürfen, damit du dich nicht endlos in der Warteschleife fühlst. Vielleicht vereinbart ihr z.B.: „Okay, wenn du Abstand brauchst, sag es offen. Ich gebe dir den Raum für ein paar Stunden/Tage, aber dann wünsche ich mir ein Lebenszeichen oder dass wir uns verabreden.“ So weißt du, woran du bist, und er fühlt sich nicht plötzlich komplett eingeengt, sondern kann Dosierungen abstimmen. Planbarkeit hilft beiden Seiten: Der Vermeidende kann sich mental darauf einstellen („Ich kriege meine Auszeit, aber am Samstag machen wir was zusammen“), und der Partner muss nicht dauerhaft im Ungewissen leiden.
Arbeite auch an deinen eigenen Triggern. Gerade wenn du selbst eher ängstlich gebunden bist, fordert dich die Beziehung enorm. Das Verhalten deines Partners kann Verlustängste in dir wecken, die dich vielleicht klammern oder vorwurfsvoll werden lassen – was den Vermeidenden wiederum triggert. Um diesen Kreis zu durchbrechen, lohnt es sich, auch an dir selbst zu arbeiten. Suche dir vielleicht ebenfalls einen Coach oder Therapeuten, sprich mit Freunden, nutze Entspannungstechniken, um deine eigenen Emotionen zu regulieren. Du solltest nicht der/die Einzige sein, der in der Beziehung zurücksteckt oder „funktioniert“. Beide Seiten dürfen wachsen. Indem du lernst, deine Angst zu zähmen (z.B. nicht sofort Worst-Case-Szenarien zu malen, wenn er sich zurückzieht), unterstützt du den Prozess enorm. Ideal ist, wenn beide sich ihrer eigenen Wunden bewusst sind und daran arbeiten – jeder an sich und beide an der Beziehung. Dann könnt ihr euch gegenseitig Verständnis entgegenbringen, statt nur in euren Rollen (der eine immer verletzt, der andere immer schuld) festzustecken.
Bleib konsequent bei deinen Grundbedürfnissen. Verständnis zu haben heißt nicht, alles hinzunehmen. Wenn dein Partner beispielsweise wochenlang abtaucht oder dich respektlos behandelt, musst du das nicht tolerieren „weil er halt Angst hat“. Eine heilsame Beziehung bedeutet nicht, dass der Bindungsängstliche alles bestimmt – es geht um gemeinsames Gestalten. Sprich also an, was für dich unverzichtbar ist (z.B. Ehrlichkeit, Treue, regelmäßiger Kontakt). Hier darfst du liebevoll, aber bestimmt Grenzen setzen. Ein Satz wie: „Ich verstehe, dass dir Verbindlichkeit Angst macht, aber für mich gehört Exklusivität in einer Beziehung dazu. Wenn du das nicht geben kannst, muss ich überlegen, was das für mich bedeutet.“ signalisiert, dass du seine Schwierigkeiten siehst, aber dich selbst nicht aufgeben wirst. Das kann auch dem Vermeidenden letztlich dienen: Er sieht, dass du dich selbst wertschätzt – und nur wer sich selbst achtet, kann auf Augenhöhe lieben. Außerdem geben klare Grenzen auch Orientierung: Der Vermeidende weiß, woran er ist, und spürt die Konsequenzen seines Tuns, was ihn eher motivieren kann, sich zu bemühen, als wenn du alles schluckst (denn dann trägt ja allein du die Beziehungsarbeit).
Hab Geduld und feiere kleine Fortschritte. Veränderung geschieht in kleinen Schritten. Wenn dein Partner sich dir anvertraut – vielleicht erzählt er dir zum ersten Mal von einer Kindheitserfahrung oder formuliert ein „Ich brauche dich“ –, dann erkenne das an! Auch wenn es dir vielleicht selbstverständlich erscheint oder du denkst „Na endlich sagt er’s“ – versuch, deine Wertschätzung zu zeigen: „Danke, dass du mir das erzählst“ oder „Es bedeutet mir viel, das von dir zu hören.“ Solche Momente sind Meilensteine für jemanden mit Bindungsangst. Wenn sie positiv aufgenommen werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er sich wieder so öffnet. Ebenso, wenn er eine Phase von Nähe ohne Rückzug durchgestanden hat – sag ruhig, dass dir das aufgefallen ist und du froh bist darüber. Positive Verstärkung stärkt das neue Verhalten. Geduld heißt auch: Nicht bei jedem kleinen Rückfall die gesamte Beziehung infrage stellen. Wenn sonst Fortschritte zu merken sind, betrachte einen Ausrutscher als das, was er ist – eine Momentaufnahme, kein komplettes Scheitern. Natürlich musst du auf dich achten; aber übereilte Trennungsszenarien bei jedem Konflikt helfen nicht.
Zusammengefasst braucht es vom Partner vor allem Verständnis, klare Kommunikation, eigene Stabilität und einen langen Atem. Diese Kombination schafft den sicheren Rahmen, in dem der Vermeidende seine alten Glaubenssätze allmählich infrage stellen kann. Beide Rollen – die des sich Öffnenden und die des geduldigen Gegenübers – sind anspruchsvoll. Es ist völlig normal, dass ihr unterwegs auch mal an eure Grenzen kommt, Zweifel habt oder euch fragt, ob ihr es schafft. In solchen Momenten erinnert euch: Ihr seid ein Team. Im Idealfall könnt ihr sogar offen darüber sprechen: Der Vermeidende kann z.B. sagen „Ich weiß, ich mache es dir schwer… ich versuche wirklich, daran zu arbeiten“ – und der Partner kann sagen „Ich weiß, dass du das nicht absichtlich machst… aber manchmal tut es mir weh.“ Solche Gespräche, so schwierig sie sind, erhöhen das gegenseitige Mitgefühl. Man sieht den Menschen hinter dem Verhalten. Ihr beide gegen die Angst – nicht gegeneinander. Das ist die Haltung, die euch durch die schweren Phasen tragen kann.
Konkrete Übungen und Impulse zum Loslegen
Zum Abschluss möchten wir euch noch ein paar praktische Übungen und Denkanstöße mitgeben, die den Heilungsprozess unterstützen können. Diese sind teils für den bindungsängstlichen Menschen selbst gedacht, teils für das Paar gemeinsam. Nehmt euch heraus, was zu eurer Situation passt – und denkt daran, es langsam anzugehen. Kleine Schritte führen zum Ziel.
1. Muster erkennen: das Trigger-Tagebuch – Wenn du selbst unter Bindungsangst leidest, führe über ein paar Wochen ein kleines Tagebuch. Notiere jedes Mal, wenn du den Impuls spürst, dich zurückzuziehen oder dich unwohl zu fühlen, was genau passiert ist. War es eine bestimmte Äußerung des Partners? Eine Geste? Ein bestimmter Nähegrad (z.B. gemeinsam einschlafen, Zukunftspläne schmieden)? Schreib auch auf, was du dabei gedacht und gefühlt hast. Dieses Tagebuch hilft dir, deine typischen Trigger schwarz auf weiß zu sehen. Gemeinsam könnt ihr darüber sprechen – so versteht dein Partner besser, was in dir vorgeht, und du selbst entlarvst mögliche irrationale Überzeugungen (“Er will bestimmen, was ich tue”, “Ich werde vereinnahmt”, etc.).
Allein das Bewusstmachen nimmt solchen Auslösern schon etwas den Schrecken.
2. Innere Dialoge üben – Eine kraftvolle Übung für Bindungsängstliche ist der Dialog mit dem inneren Kind. Nimm dir regelmäßig ein paar Minuten, schließe die Augen und stelle dir vor, in dir sitzt das 5-jährige Kind, das Angst vor Nähe hat. Dieses Kind hatte Gründe – vielleicht fühlte es sich einst wirklich ausgeliefert. Sprich ihm nun als erwachsener Teil in dir zu: „Ich verstehe, dass du Angst hast. Aber ich verspreche dir, heute passe ich auf dich auf. Wir werden nicht nochmal hilflos sein wie damals. Wir dürfen es wagen, jemanden nah an uns ranzulassen – und wenn es uns zu viel wird, dürfen wir Stop sagen. Ich sorge dafür, dass wir sicher sind.“ Dieser Akt der Selbstberuhigung mag anfangs seltsam wirken, doch er hilft, die alte Angst zu trösten. Man lernt, sich selbst der Halt zu sein, den man früher nicht hatte. Und damit wird man mutiger, es mit dem Vertrauen zu versuchen, weil innerlich jemand Schutz bietet – nämlich du selbst, der Erwachsene.
3. Kleine Verletzlichkeits-Schritte – Wenn du zur Vermeidung neigst, fordere dich gezielt in winzigen Dosen heraus, dich verletzlich zu zeigen. Du musst nicht gleich tiefste Geheimnisse beichten. Fang im Alltag an: Erzähl deinem Partner vielleicht eine persönliche Anekdote aus deiner Kindheit, oder gestehe eine kleine aktuelle Sorge (“Ich habe morgen vor dem Meeting echt Bammel”). Beobachte, was passiert. Wirst du ausgelacht oder abgewertet? Höchstwahrscheinlich nicht – im Gegenteil, dein Partner wird froh sein, dass du ihn teilhaben lässt. Spüre bewusst nach: Hat diese Offenheit mehr Verbindung geschaffen? Fühlst du dich vielleicht sogar erleichtert? Beweise dir immer wieder selbst, dass deine Befürchtung unbegründet ist.
Step by step merkst du: Es tut gar nicht so weh, sich zu öffnen – im Gegenteil, es kann euch näher bringen.
4. Bedürfnisse benennen – Übe dich darin, deine Bedürfnisse in Worte zu fassen – und zwar bevor sie sich als Unmut oder Rückzug bemerkbar machen. Vermeidende sind es oft gewohnt, alles mit sich selbst auszumachen. Doch dein Partner ist kein Hellseher. Nimm dir vor, einmal pro Woche eine Sache zu benennen, die du dir wünschst oder nicht wünschst. Beispiel: „Ich möchte dieses Wochenende gern einen Tag für mich allein haben.“ Oder: „Ich würde dich gern öfter umarmen, traue mich aber manchmal nicht.“ Solche Aussagen kosten Überwindung, ja – aber sie verhindern, dass dein Partner im Dunkeln tappt. Gleichzeitig lernst du: Du darfst Bedürfnisse haben und kommunizieren, ohne abgelehnt zu werden. Sollte dein Partner wirklich mal negativ reagieren, war es vielleicht der falsche Zeitpunkt oder Ton – versucht es dann nochmals ruhiger. Oft sind Partner regelrecht erleichtert, wenn du formulierst, was in dir vorgeht, weil sie dann endlich wissen, woran sie sind. Und wenn du gehört wirst und positive Reaktionen erlebst, wirst du dich langfristig sicherer fühlen, deine Wünsche zu äußern.
5. Quality-Time-Ritual einführen – Gemeinsam könnt ihr ein festes Ritual verabreden, das euch verbindet, aber klar begrenzt ist, damit es den Vermeidenden nicht überfordert. Zum Beispiel könnt ihr jeden Abend 15 Minuten „Kuschelzeit“ einplanen, in der ihr euch nur in den Arm nehmt ohne reden. Oder einen bestimmten Wochentag als „Pärchen-Abend“ deklarieren, an dem ihr etwas Schönes zusammen macht (kochen, spazieren gehen, Film schauen) – und danach hat jeder wieder Zeit für sich. Ein Ritual schafft Verlässlichkeit: Der Bindungsängstliche weiß, Nähe kommt planbar auf ihn zu (nicht aus dem Nichts), und der Partner kann sich auf regelmäßige Zweisamkeit freuen. Wichtig: Haltet das Ritual möglichst ein, aber lasst auch Freiraum, es anzupassen, falls es mal zu viel wird. Es geht nicht um Zwang, sondern um eine sichere gemeinsame Insel im Wochenlauf.
6. Gemeinsam statt gegeneinander: Perspektivwechsel – Nehmt euch ab und zu Zeit, bewusst in die Rolle des anderen zu schlüpfen. Der Vermeidende könnte dem Partner z.B. einen Brief schreiben aus Sicht des „ängstlichen Kindes“ in ihm: „Wenn du mir nahe kommst, habe ich Angst…“ und erklären, was dann in ihm vorgeht. Und der Partner schreibt aus Sicht seines „verletzten Anteils“: „Wenn du dich zurückziehst, fühle ich mich…“. Dann tauscht ihr diese Briefe. Das kann unglaublich helfen, einander nicht als Täter oder Nervensäge zu sehen, sondern die verletzten Anteile hinter dem Verhalten wahrzunehmen. Plötzlich versteht der Bindungsängstliche: Mein Partner klammert nicht, weil er mich stressen will, sondern weil er selbst Angst hat mich zu verlieren. Und der Partner begreift: Er geht auf Abstand, weil er überfordert ist, nicht weil ich ihm egal bin. Dieser empathische Perspektivwechsel kann viel Verbitterung rausnehmen und die Kooperation stärken. Ihr sitzt dann sprichwörtlich im selben Boot gegen die Bindungsangst, statt euch gegenseitig Vorwürfe zu machen.
7. Professionelle Hilfe als Team nutzen – Wartet nicht, bis die Situation ausweglos scheint: Nutzt ruhig frühzeitig Angebote wie Paarberatung oder -therapie, als Team. Das ist keine Bankrotterklärung der Liebe, sondern im Gegenteil ein Zeichen, dass ihr euch beide wichtig genug seid, um an eurer Beziehung zu arbeiten. Ein neutraler Dritter kann übersetzen helfen, wenn Missverständnisse festhängen, und euch Techniken an die Hand geben, wie ihr im Alltag sicher miteinander kommuniziert. So ein Setting kann auch den Druck rausnehmen: Beide fühlen sich gehört, keiner ist der „Böse“, und man lernt ganz konkret, alte Muster zu durchbrechen. Gerade bei komplexen Bindungsmustern (z.B. Vermeider mit traumatischen Erfahrungen, Partner mit starker Verlustangst) ist das oft der Schlüssel, um nicht aneinander zu verzweifeln. Es ist vollkommen okay, das „zu zweit“ auch im erweiterten Sinne zu sehen – nämlich mit Unterstützung von außen. Wichtig ist nur, dass ihr beide bereit seid, diesen Weg mitzugehen.
Am Ende des Tages bedeutet “Heilung nur zu zweit“ nicht, dass man sich passiv vom Partner heilen lässt, sondern dass man die Heilung in Beziehung geschehen lässt. Es heißt:
Du musst es nicht allein schaffen. Deine Beziehung – sei es die aktuelle Partnerschaft oder auch eine therapeutische Beziehung – kann zum sicheren Übungsplatz werden, auf dem du neue Erfahrungen sammelst. Du darfst dich zeigen und ausprobieren, Schritt für Schritt, wie es ist, jemanden wirklich nahe an dich heranzulassen. Und du, als Partner, darfst ein unterstützender Anker sein, ohne dich selbst zu verlieren.
Zum Schluss soll gesagt sein: Jeder Mensch ist beziehungsfähig, wenn er bereit ist zu lernen. Ein vermeidender Bindungsstil ist kein Urteil auf Lebenszeit. Er ist ein Schutz, den man mal gebraucht hat – und den man jetzt nach und nach lockern darf. In einem Klima von Liebe, Geduld und echtem gegenseitigem Verständnis können alte Wunden heilen. Die Angst wird kleiner, je mehr sie sieht: Die Gegenwart ist nicht die Vergangenheit. Vertrauen kann wachsen. Nähe kann Sicherheit bedeuten. Und aus „Ich brauche niemanden“ kann langsam ein „Ich darf dich brauchen und es ist schön, dich an meiner Seite zu haben“ werden. Diesen Weg müsst ihr nicht allein gehen – ihr könnt ihn nur gemeinsam gehen.
Quellen und weiterführende Links
Christine Rudolph (Blog, 2024) – Bindung – Der unsichtbare Faden, der uns prägt: 3 Strategien zur Heilung. In diesem Beitrag beschreibt die systemische Therapeutin Christine Rudolph u.a., dass Menschen mit unsicherem Bindungsstil sich zwar eine stabile Beziehung wünschen, einen wirklich sicher gebundenen Partner jedoch oft als „langweilig“ empfinden, weil Drama und Spannung fehlen christinerudolphcoaching.com. Sie erläutert auch eindrücklich die paradoxe Dynamik von vermeidenden und ängstlichen Partnern („toxischer Tanz“ von Nähe und Rückzug) . Außerdem betont sie die Wirksamkeit von Paartherapie und individuellem Coaching, um aus solchen Mustern auszusteigen.
Kati Körner (Blog, 2025) – Abweisend vermeidend – 9 Schlüssel zur Heilung. Die Autorin (Coach für Bindungsmuster) beschreibt neun Schritte, wie Menschen mit einem abweisend-vermeidenden Bindungsstil ihre Muster auflösen können. Besonders hervorgehoben wird die Voraussetzung, dass der Betroffene ehrlichen Willen zur Selbstreflexion mitbringt – dann ist die Prognose gut katikoerner.de. Körner erklärt, warum Vermeidern die Auseinandersetzung so schwer fällt (geringer Leidensdruck, Konfrontation mit Ängsten ohne Zwang) katikoerner.de.
Zu den Schlüsseln gehören u.a. das Zulassen und Verarbeiten von Gefühlen, das Stoppen von Selbstabwertung und das Üben von Verletzlichkeit in kleinen Schritten katikoerner.de. Im Artikel findet sich auch eine „Message an meinen Partner“, in der aus Perspektive eines Vermeidenden geschildert wird, was er in der Beziehung braucht – z.B. Zeit und Raum für sich, klare Kommunikation statt Rätselraten, und einen konstanten, ausgeglichenen Partner, der ihm Sicherheit gibt.Stefanie Stahl (Psycho-Blog, 2022) – Auswege aus der Bindungsangst – für Betroffene (Teil 1). Die bekannte Psychologin Stefanie Stahl beleuchtet drei Kernaspekte der Bindungsangst: die Angst vor Abhängigkeit, vor Erwartungen und vor Ablehnung. Sie erklärt, dass Bindungsängstliche oft erlebt haben, als Abhängige „ausgeliefert“ statt umsorgt gewesen zu sein, und daher heute um jeden Preis innerlich unabhängig bleiben wollen stefaniestahl.de. Weiter rät sie Betroffenen, hinter das diffuse Unwohlsein in Beziehungen zu schauen und die alten Ängste dahinter zu erkennen. Besonders interessant ist Stahls Beschreibung der Ablehnungsangst: Aus Furcht, nicht zu bekommen was man sich wünscht, entscheiden sich Vermeidende unbewusst oft schon im Vorfeld dagegen („Ich will das ohnehin nicht“). Ihre Tipps umfassen u.a. die Beruhigung des inneren Kindes und das Einüben von Kompromissfähigkeit – denn zwischen Selbstaufgabe und Kompromisslosigkeit gibt es viel Spielraum.
Website „Der Vermeidende Bindungsstil“ – Blogartikel: Trigger & Beziehungsangst verstehen. Auf dieser Webseite, die sich speziell dem Thema Bindungsvermeidung widmet, wird ausführlich der Hintergrund des vermeidenden Bindungsstils erklärt. Besonders relevant ist die Zusammenfassung:
Nähe macht Angst, Distanz gibt Sicherheit der-vermeidende-bindungsstil.de. Es wird beschrieben, dass Vermeidende nach außen unabhängig wirken, innerlich jedoch oft Verlustängste und einen Glauben „ich bin nicht liebenswert“ mit sich tragen. Außerdem betont der Artikel, dass die Bindungsangst eines Partners nicht die „Schuld“ des anderen ist und man es als Partner nicht einfach „weglieben“ kann. Stattdessen wird geraten, das Verhalten nicht persönlich zu nehmen, da die Ursachen in der eigenen Geschichte des Bindungsängstlichen liegen. Der Artikel enthält viele Alltagsbeispiele für typische Verhaltensmuster (z.B. Rückzug nach schönen Wochenenden), die im Beitrag oben aufgegriffen wurden.Sharon Brehm, Interview im STERN (2024) – In einem Gespräch mit der Paartherapeutin Sharon Brehm (wiedergegeben auf stern.de) wird erläutert, dass man einen unsicheren Bindungsstil durch neue Erfahrungen nach und nach „heilen“ und immer sicherer werden kann stern.de. Brehm beschreibt, wie neue positive Bindungserfahrungen – z.B. mit einem verlässlichen Partner – nötig sind, um alte Beziehungsmuster zu überschreiben. Dieses Interview unterstreicht den Gedanken, dass es tatsächlicher Erlebnisse von Sicherheit und Vertrauen bedarf, um eine unsichere Bindung in eine sichere zu transformieren.
Stefanie Stahl Akademie (Blog, 2025) – Verliebt, verwirrt, verschwunden – wie Bindungsvermeidung wirkt. Dieser Online-Artikel aus der Stefanie-Stahl-Akademie enthält den prägnanten Satz: „Nichts heilt Bindungsangst allein im Kopf. Heilung entsteht durch echte Verbindung… Schritt für Schritt.“stefaniestahlakademie.de. Er untermauert damit die Kernthese dieses Blogbeitrags. Zudem werden dort praktische Hilfen genannt, z.B. körperorientierte Ansätze zur Beruhigung des Nervensystems bei Nähe-Panik und der Hinweis, dass man den Weg aus der Bindungsangst nicht alleine gehen muss. Der Artikel macht deutlich, dass Bindungsvermeidung kein unabänderliches Persönlichkeitsmerkmal ist, sondern ein Muster, das verstanden und verändert werden kann – am besten in unterstützender Begleitung.