Vermeidender Bindungsstil in der Kennenlernphase

Warum dieses Thema gerade jetzt wichtig ist

Die Kennenlernphase einer Beziehung ist eine Zeit voller Hoffnungen, Träume und zugleich Unsicherheiten. Man lernt einen Menschen kennen, öffnet sich, erlebt Nähe und gleichzeitig die Angst, verletzt zu werden. Besonders herausfordernd ist diese Phase, wenn einer der beiden Partner einen vermeidenden Bindungsstil hat. Anfangs wirkt vieles leicht, charmant, unbeschwert.
Gespräche laufen flüssig, Nachrichten sind häufig, Treffen angenehm. Doch kaum bahnt sich eine echte Vertiefung an, beginnt ein Muster, das für die andere Seite oft verwirrend
und schmerzhaft ist: Der vermeidende Mensch zieht sich zurück. Was auf den ersten Blick wie Desinteresse wirkt, ist in Wahrheit meist ein Versuch, die eigene innere Balance zu wahren.
Nähe wird als Gefahr empfunden, als Bedrohung der Autonomie.

Gerade deshalb ist es so wichtig, die Kennenlernphase genauer zu beleuchten. Wie erkenne ich einen vermeidenden Bindungsstil frühzeitig? Warum sind Vermeider am Anfang offen, fast übermäßig zugänglich, und warum schalten sie mit zunehmender Nähe zurück? Was geschieht in ihrem Inneren? Und welche Möglichkeiten gibt es, diese Dynamik zu verstehen, zu begleiten oder auch gesunde Grenzen zu ziehen? Dieser Beitrag möchte Antworten geben – nicht, um zu verurteilen, sondern um Verstehen und Orientierung zu schaffen.

Der vermeidende Bindungsstil – ein kurzer Überblick

Um die Dynamik in der Kennenlernphase zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Grundlagen des vermeidenden Bindungsstils werfen. Menschen mit diesem Muster haben meist in ihrer Kindheit gelernt, dass emotionale Nähe nicht zuverlässig, manchmal sogar bedrohlich ist. Sie erlebten, dass ihre Bedürfnisse nach Zuwendung, Trost oder Sicherheit nicht beständig beantwortet wurden. Das Kind zog die Konsequenz: „Ich darf mich nicht zu sehr anlehnen, ich darf nicht zu viel fühlen, sonst werde ich enttäuscht.“ So entwickelte sich eine Überlebensstrategie: Autonomie um jeden Preis.

Als Erwachsene tragen diese Menschen ein Schutzsystem in sich, das Nähe als gefährlich einstuft. Sie wünschen sich durchaus Beziehungen, aber sobald die Verbindung intensiver wird, aktiviert ihr Nervensystem eine Art inneren Alarm. Dieser Alarm meldet: „Vorsicht, hier droht Abhängigkeit, hier droht Verletzung.“ Um diesen Druck zu regulieren, greifen sie unbewusst zu sogenannten Deaktivierungsstrategien. Sie relativieren, ziehen sich zurück, entwerten, stellen Distanz her. Das ist keine Boshaftigkeit, sondern der Versuch, das eigene System wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Erste Signale in der Kennenlernphase

Woran kann man nun einen vermeidenden Bindungsstil schon früh erkennen? Zunächst sei gesagt: Kein einzelnes Verhalten beweist für sich allein etwas. Jeder Mensch ist mal beschäftigt, braucht mal Zeit für sich oder ist nicht sofort verbindlich. Doch wenn bestimmte Muster immer wieder auftreten, wird erkennbar, dass hier eine tieferliegende Dynamik wirkt.

Anfangs wirkt die Nähe erstaunlich leicht. Der Vermeider kann sehr offen erscheinen, teilt persönliche Details, flirtet, zeigt Interesse. Gerade weil die Beziehung noch nicht bindend ist, fühlt er sich sicher. Verbindlichkeit ist noch keine Erwartung, und damit auch keine Bedrohung. Doch schon früh zeigt sich eine Art Unverbindlichkeit im Hintergrund. Verabredungen werden eher vage formuliert, Aussagen bleiben im Konjunktiv: „Lass uns mal sehen, vielleicht nächste Woche.“ Gespräche drehen sich eher um Leichtigkeit, Spaß und gemeinsame Aktivitäten, selten um tiefergehende Themen wie Wünsche, Verletzlichkeit oder Zukunftsvorstellungen.

Ein weiteres Zeichen ist die Art des Kontakts. Oft bevorzugen Vermeider asynchronen Austausch – sie schreiben lieber Nachrichten, die sie zeitlich kontrollieren können, anstatt sich auf spontane Telefonate einzulassen. Direktkontakt löst in ihnen oft ein Gefühl von Verpflichtung aus, während Nachrichten mehr Spielraum lassen.

Auch in körperlicher Hinsicht lässt sich ein Muster erkennen. Intimität ist oft möglich, sogar intensiv. Doch nach körperlicher Nähe folgt nicht selten ein Rückzug. Das Gegenüber wundert sich:
„Wir hatten so einen schönen Abend – warum schreibt er oder sie jetzt tagelang kaum?“ Für Vermeider ist Sexualität zwar möglich, doch sie aktiviert auch das Bindungssystem, was wiederum Distanzimpulse nach sich zieht.

Diese Dynamik ist schmerzhaft für das Gegenüber, aber für den Vermeider selbst ein Versuch, Überflutung zu vermeiden. Nähe und Distanz wechseln sich ab wie das Ein- und Ausatmen:
ein Moment von Verbundenheit, gefolgt vom Drang, Abstand herzustellen.

Warum Vermeider am Anfang offen wirken – und später zurückschalten

Das scheinbare Paradox – Offenheit am Anfang, Rückzug später – wird verständlicher, wenn man die inneren Mechanismen betrachtet. In der frühen Phase einer Beziehung fühlt sich der Vermeider sicher. Die Verbindung ist unverbindlich, noch hypothetisch. Man schuldet einander nichts, und genau das gibt Freiheit. In diesem Stadium können Vermeider sogar übermäßig charmant, interessiert und zugänglich wirken. Nähe ist möglich, solange sie keine Verpflichtung nach sich zieht.

Doch sobald Marker von Verbindlichkeit ins Spiel kommen, verändert sich alles. Ein regelmäßiges Treffen, die erste Übernachtung mit Zahnbürste im Bad, das Kennenlernen des Freundeskreises, Gespräche über Exklusivität – all das sind Signale, dass die Beziehung ernst wird. Für den Vermeider steigt in diesem Moment das innere Alarmsignal. Nähe wird als potenzielle Überforderung empfunden, und das Nervensystem fährt Deaktivierungsstrategien hoch: weniger Kontakt, mehr Distanz, manchmal auch subtile Abwertung des Gegenübers, um die eigene Autonomie zu sichern.

Dieser Prozess ist wie ein Thermostat, das viel zu sensibel eingestellt ist. Schon kleine Signale von Wärme lösen Alarm aus, als wäre Gefahr im Verzug. Der Rückzug dient dazu, die Temperatur wieder auf ein erträgliches Maß zu senken. Hat sich der Vermeider innerlich beruhigt, ist auch Annäherung wieder möglich. So entsteht das typische Nähe-Distanz-Pendel.

Das innere Erleben des Vermeiders

Für das Gegenüber wirken diese Bewegungen oft widersprüchlich, sogar verletzend. Doch im Inneren des Vermeiders ist es weniger ein Spiel mit dem anderen, sondern eher ein ständiger Kampf mit sich selbst. Viele Vermeider erleben eine Mischung aus Sehnsucht und Angst. Sie wünschen sich Nähe, doch sobald diese entsteht, fühlen sie Druck, Erwartungen, die sie zu überfordern drohen.
„Ich will dich, aber bitte nicht zu nah“, könnte man diesen inneren Dialog beschreiben.

Oft tauchen Gedanken auf wie: „Wenn ich mich zu sehr öffne, werde ich verletzt.“ Oder: „Ich werde den Erwartungen nicht gerecht, also lieber Distanz, bevor es wehtut.“ Diese Gedanken führen zu Rationalisierungen: „Jetzt ist beruflich keine gute Zeit, eine Beziehung würde mich nur ablenken.“ Oder: „Wir passen eigentlich nicht so richtig.“ In Wahrheit sind dies Schutzstrategien, um Distanz herzustellen.

Emotional erleben viele Vermeider eine Art Taubheit nach intensiven Momenten. Sie spüren plötzlich nichts mehr, was das Gegenüber als Desinteresse missversteht. Doch es ist eine Form von Selbstschutz: Wenn die Emotionen zu stark werden, reguliert das System herunter, bis nichts mehr fühlbar ist.

Körperlich zeigen sich diese Prozesse ebenfalls. Stresshormone steigen, Herzschlag und Anspannung nehmen zu, wenn Nähe zu intensiv wird. Rückzug, Schweigen oder Ablenkung dienen dazu, diesen inneren Druck zu senken.

Unterschiede zwischen unsicher- und ängstlich-vermeidenden Typen

Es ist wichtig zu unterscheiden: Nicht jeder Vermeider reagiert gleich. Der sogenannte unsicher- vermeidende Typ (dismissive avoident) betont seine Unabhängigkeit besonders stark. Er wirkt souverän, oft sogar charismatisch, aber sobald Verbindlichkeit entsteht, zieht er sich kontrolliert zurück. Das Selbstbild ist eher positiv, andere werden eher abgewertet.

Der ängstlich-vermeidende Typ (auch fearful avoidant genannt) hat es schwerer. Er trägt sowohl ein negatives Selbstbild als auch Misstrauen gegenüber anderen. Er schwankt stark zwischen Sehnsucht und Angst. In der Kennenlernphase zeigt sich dies durch heftige Wechsel: intensive Nähe, gefolgt von abruptem Rückzug. Für das Gegenüber wirkt dies noch unberechenbarer.

Dynamiken der Kennenlernphase im Detail

Wenn man genauer hinsieht, lässt sich die Dynamik der Kennenlernphase mit einem Vermeider fast wie ein Tanz beschreiben. Es beginnt mit Annäherung: intensive Gespräche, Nähe, vielleicht schon früh körperliche Intimität. Darauf folgt ein Schritt zurück: Nachrichten werden kürzer, Treffen seltener. Dann wieder Annäherung – und erneut Rückzug. Dieses Muster wiederholt sich, bis beide Seiten entweder Wege finden, damit umzugehen, oder die Beziehung an den ständigen Brüchen zerbricht.

Im Messaging zeigt sich das Muster häufig daran, dass Vermeider lieber gesammelt antworten, statt einen fortlaufenden Dialog zu führen. Bei Verbindlichkeiten lassen sie gerne Spielraum:
Termine werden offengelassen, Pläne bleiben unverbindlich. Das Kennenlernen von Freunden oder Familie verzögert sich. Und nach schönen, intimen Momenten folgt oft eine kleine Funkstille.

Konflikte sind in dieser Phase besonders heikel. Während ein Partner vielleicht Klarheit möchte, weicht der Vermeider dem Gespräch aus oder beendet es abrupt.
Nicht, weil ihm nichts an der Beziehung liegt, sondern weil sein System auf Überforderung reagiert.

Redflags in der Kennenlernphase

Im Dating-Kontext spricht man oft von sogenannten „Redflags“. Damit sind Verhaltensweisen oder Signale gemeint, die auf ernsthafte Probleme hindeuten können und bei denen man besonders wachsam sein sollte. Während kleine Rückzüge oder das Bedürfnis nach Zeit für sich beim vermeidenden Bindungsstil noch normale Regulationsstrategien sind, gibt es klare Warnzeichen,
die man nicht ignorieren sollte. Redflags sind die Momente, in denen es nicht mehr um Schutz oder Nervensystem-Regulation geht, sondern um destruktives Verhalten, das langfristig schadet.

Typische Redflags beim Dating mit einem Vermeider sind zum Beispiel Ghosting – also das plötzliche und vollständige Abbrechen des Kontakts ohne Erklärung –, wiederholte Abwertungen der eigenen Gefühle oder Bedürfnisse, bewusstes Gaslighting, also die Manipulation der Wahrnehmung des Partners, sowie das Führen eines Doppellebens oder wiederholte Lügen über wichtige Dinge. Auch wenn jemand dauerhaft keine Bereitschaft zeigt, über grundlegende Rahmenbedingungen einer Beziehung zu sprechen, etwa Exklusivität oder Verbindlichkeit im Kontakt, ist das eine klare “rote Flagge.”

Erkennen lassen sich diese Redflags daran, dass sie nicht situativ oder einmalig auftreten, sondern wiederholt und systematisch. Während ein Vermeider nach Nähe manchmal ein paar Tage Abstand braucht, wird eine Redflag sichtbar, wenn Rückzug mit Abwertung, Schweigen oder Lügen verbunden ist. In diesen Fällen geht es nicht mehr um Regulierung, sondern um Vermeidung auf Kosten des anderen. Wer diese Signale erkennt, sollte seine Grenzen klar ziehen und sich bewusst machen, dass eigene Würde und Sicherheit immer Vorrang haben.

Wie reagiere ich auf Redflags? – Konkrete Beispiele

Es hilft, ruhig und klar zu formulieren, was man wahrnimmt und welche Konsequenzen man zieht. Ein paar mögliche Sätze:

  • Bei Ghosting: „Ich merke, dass du dich ohne Erklärung zurückziehst. Für mich ist eine offene Kommunikation wichtig. Wenn das nicht möglich ist, passt es für mich nicht.“

  • Bei Abwertung: „Mir ist aufgefallen, dass meine Gefühle hier klein gemacht werden. Das verletzt mich. Ich brauche Respekt und Wertschätzung – sonst ist es keine Basis für uns.“

  • Bei Gaslighting: „Du stellst meine Wahrnehmung in Frage. Das fühlt sich manipulativ an. Ich brauche Klarheit, keine Verdrehung.“

  • Bei fehlender Verbindlichkeit: „Mir ist Verbindlichkeit wichtig. Wenn du dazu nicht bereit bist, ist es fairer, getrennte Wege zu gehen.“

Diese Aussagen setzen klare Grenzen, bleiben dabei respektvoll und geben dem anderen die Wahl, Verantwortung zu übernehmen. Entscheidend ist, dass man nicht nur ankündigt,
sondern die eigene Grenze auch wirklich lebt.

Handlungsmöglichkeiten – wie Betroffene und Vermeider sicherer durch die Kennenlernphase kommen

Für Menschen, die sich in einen Vermeider verlieben, ist es wichtig, das Muster zu erkennen und nicht vorschnell zu interpretieren. Rückzug bedeutet nicht automatisch Desinteresse, sondern häufig Regulation. Zugleich gilt: Nicht jede Verletzung ist zu entschuldigen. Es ist entscheidend, zwischen normaler Regulation und destruktivem Verhalten (wie Abwertung, Lügen oder Ghosting) zu unterscheiden.

Für das Gegenüber helfen klare Absprachen. Kleine, verlässliche Rituale sind oft wirksamer als große Gesten. Lieber ein kurzes Telefonat zu einer festen Zeit als stundenlange Gespräche, die überfordern. Eine Sprache der Sicherheit – beschreibend statt anklagend – hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Sätze wie: „Mir fällt auf, dass wir nach Nähe manchmal mehr Abstand brauchen“ sind hilfreicher als Vorwürfe.

Auch die Selbstfürsorge darf nicht vernachlässigt werden. Wer mit einem Vermeider eine Beziehung eingeht, sollte seine eigenen Ressourcen pflegen – Freundschaften, Hobbys, ein stabiles soziales Netz. Sich selbst aufzugeben, um den anderen zu halten, führt langfristig zu Verletzungen.

Für Vermeider selbst gibt es Wege, die eigenen Muster zu reflektieren und zu verändern. Kleine Übungen helfen, Nähe auszuhalten: etwa täglich ein kurzer Satz, der Zuneigung ausdrückt, oder der bewusste Einsatz des Gefühlskompasses, um Emotionen zu benennen, bevor sie überwältigen. Auch kleine Verbindlichkeiten – eine feste Nachricht am Abend, ein kurzer Anruf – können helfen, Nähe planbarer und damit erträglicher zu machen.

Zusammenfassung

Der vermeidende Bindungsstil in der Kennenlernphase zeigt sich als ein Muster von Annäherung und Rückzug. Anfangs wirkt vieles leicht, offen, charmant – doch sobald Verbindlichkeit ins Spiel kommt, steigt der innere Druck. Rückzug dient nicht dem Spiel mit dem anderen, sondern dem Selbstschutz. Das innere Erleben ist geprägt von Sehnsucht und Angst zugleich, von der ständigen Suche nach Balance zwischen Nähe und Autonomie.

Für Betroffene gilt es, Muster früh zu erkennen, Sprache der Sicherheit zu wählen und eigene Grenzen zu wahren. Für Vermeider ist es möglich, Nähe in kleinen, planbaren Schritten zuzulassen und das eigene Nervensystem zu beruhigen. Ziel ist nicht Anpassung um jeden Preis, sondern Würde und Klarheit für beide Seiten.

Quellen & weiterführende Links

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  • Shaver, P. R., & Mikulincer, M. (2007). Adult attachment strategies and the regulation of emotion.

  • Simpson, J. A., & Rholes, W. S. (2017). Adult Attachment, Stress, and Romantic Relationships.

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  • van Lankveld, J., et al. (2021). Intimacy, partner responsiveness & sexual desire.

  • Gottman Institute – The Pursuer-Distancer Pattern.

  • Asendorpf, J. B. (2006). Bindungsstil & Sexualität (deutsch).

  • Brülisauer, A. (2023). Bindung – Partnerschaft – Konflikt.

  • UIBK (2021). Auswirkungen des Bindungsstils.

  • www.der-vermeidende-bindungsstil.de

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