Promiskuität beim vermeidenden Bindungsstil: Warum Fremdgehen für Vermeider so leicht ist

Einleitung: Wenn Liebe zur Bedrohung wird

Es gibt Momente in Beziehungen, die brennen sich unauslöschlich in das Herz ein: der Anruf mitten in der Nacht, die zufällige Nachricht auf dem Handy, der schmerzhafte Verdacht, dass jemand anderes ins Spiel gekommen ist. Für Partner von Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil ist genau diese Erfahrung oft Realität. Fremdgehen, Affären oder das wiederholte Aufsuchen flüchtiger sexueller Kontakte gehören für viele von ihnen zur schmerzhaften Dynamik einer Beziehung. Und die Frage, die dann fast unausweichlich im Raum steht,
lautet: „Warum fällt es ihm oder ihr so leicht, fremdzugehen?“

Von außen betrachtet scheint es oft wie ein klarer Fall von Untreue, Respektlosigkeit oder schlicht fehlender Liebe. Doch bei Menschen mit vermeidendem Bindungsstil steckt viel mehr dahinter als bloße Lust oder der Wunsch nach Abwechslung. Promiskuität ist hier nicht selten ein Schutzmechanismus, ein Versuch, mit Nähe und Intimität umzugehen – oder vielmehr, ihr auszuweichen. Um das zu verstehen, müssen wir tiefer eintauchen in die Dynamik des vermeidenden Bindungsstils, in die Wurzeln von Angst, Distanz und dem paradoxen Verhältnis zu Nähe.

1. Der vermeidende Bindungsstil – Nähe als Bedrohung

Vermeidend gebundene Menschen haben in ihrer Kindheit gelernt, dass Nähe nicht unbedingt etwas Sicheres oder Wohltuendes ist. Oft wuchsen sie in Familien auf, in denen ihre Bedürfnisse nach Zuwendung, Trost und emotionaler Geborgenheit nicht zuverlässig beantwortet wurden. Manche erlebten Zurückweisung, andere spürten eine ständige Überforderung ihrer Eltern, die selbst emotional nicht stabil waren. Manche wuchsen in einem Klima auf, in dem Leistung mehr zählte als Gefühle.

Das Kind lernt früh: Es ist sicherer, nicht zu viel zu fühlen, nicht zu sehr zu brauchen, nicht zu sehr zu wollen. Das führt dazu, dass Bedürfnisse nach Nähe abgespalten werden. Der kleine Junge, das kleine Mädchen beschließt unbewusst: „Ich komme besser klar, wenn ich niemanden brauche.“ Dieses Muster prägt sich tief ins Nervensystem ein und wirkt später in erwachsenen Beziehungen fort.

In Partnerschaften zeigt sich das dann als Distanz. Wenn es zu eng wird, wenn der Partner zu viel Nähe sucht, zieht sich der Vermeider zurück. Intimität wird unbewusst als Bedrohung erlebt – nicht, weil sie objektiv gefährlich wäre, sondern weil sie alte, unverarbeitete Gefühle von Ohnmacht, Bedürftigkeit oder Zurückweisung wachruft.

2. Promiskuität als Schutzmechanismus

Wie hängt das nun mit Fremdgehen zusammen? Für einen Vermeider bedeutet eine feste Beziehung häufig eine enorme Herausforderung. Sie fordert Verbindlichkeit, emotionale Nähe und das Aushalten von Verletzlichkeit. Genau das aber sind die Punkte, die für den Vermeider mit Gefahr verknüpft sind.

Promiskuität erscheint in diesem Zusammenhang wie ein Ausweg. Denn Affären oder wechselnde Sexualkontakte haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind oberflächlich genug, um erträglich zu bleiben. Körperliche Nähe ist möglich, ja sogar intensiv – aber sie wird nicht automatisch mit emotionaler Nähe gleichgesetzt. Ein One-Night-Stand verlangt keine Offenlegung der Seele, keine tiefen Gespräche, keine Verbindlichkeit. Alles bleibt flüchtig und kontrollierbar.

Für den Vermeider ist das attraktiv, weil es erlaubt, zwei scheinbar widersprüchliche Bedürfnisse gleichzeitig zu bedienen: Die Sehnsucht nach körperlicher Nähe und Bestätigung kann ausgelebt werden, während die Angst vor echter Intimität vermieden wird.

3. Warum Fremdgehen „leichter“ fällt

Fremdgehen ist in keiner Beziehung eine Kleinigkeit. Doch während viele Menschen innere Hemmschwellen, Schuldgefühle oder moralische Bedenken empfinden, scheinen Vermeider diese leichter überwinden zu können. Das liegt weniger an mangelnder Moral, sondern an bestimmten psychischen Dynamiken.

Zum einen haben Vermeider eine klare Trennung zwischen Sex und Liebe. Was für viele Menschen eng miteinander verwoben ist, bleibt für sie in unterschiedlichen Schubladen. Sex kann rein körperlich sein, ohne emotionale Beteiligung. Das ermöglicht es ihnen, in einer festen Beziehung zu sein und gleichzeitig andere sexuelle Kontakte zu haben, ohne dass sie dies als Widerspruch erleben.

Zum anderen spielt die Suche nach Bestätigung eine Rolle. Vermeider tragen tief in sich ein Gefühl von innerer Leere, das aus der unterdrückten Bedürftigkeit der Kindheit stammt. Neue Affären, Eroberungen oder sexuelle Abenteuer wirken wie ein schneller Beweis: „Ich bin begehrenswert. Ich habe Kontrolle.“ Dieses Gefühl hält jedoch nie lange an. Sobald die Euphorie nachlässt, kehrt die Leere zurück – und mit ihr die erneute Suche nach dem nächsten Kick.

Hinzu kommt der Reiz des Verbotenen. Fremdgehen aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn, setzt Dopamin frei und erzeugt Adrenalin. Für jemanden, der innerlich häufig emotional abgestumpft oder von sich selbst abgeschnitten ist, wirkt das wie ein künstlicher Energieschub.

4. Die Folgen für den Partner

Für den Partner eines Vermeiders ist das Erleben von Untreue ein tiefer Schlag. Während der Vermeider das Fremdgehen oft nicht als „so schlimm“ empfindet, weil er Sex und Liebe trennt, erlebt der Partner es als massiven Vertrauensbruch.

Besonders in Konstellationen, in denen der Partner einen ängstlichen Bindungsstil hat, ist die Wunde tief. Ängstliche Partner kämpfen ohnehin mit einer ständigen Sorge, nicht genug zu sein, verlassen zu werden oder ersetzt zu werden. Wenn ihr vermeidender Partner tatsächlich fremdgeht, bestätigt das ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie reagieren oft mit starker Anpassung, Kontrollversuchen oder verzweifelter Nähe-Suche – was den Vermeider wiederum nur noch weiter in die Distanz treibt.

So entsteht ein Kreislauf, der kaum durchbrochen werden kann: Der ängstliche Partner klammert mehr, der Vermeider entfernt sich noch weiter – und sucht womöglich erneut Bestätigung im Außen.

5. Innere Leere und das Paradox der Intimität

Promiskuität beim Vermeider ist letztlich ein Ausdruck eines zentralen Paradoxons: Das, wonach er sich sehnt, ist gleichzeitig das, wovor er flieht.
Der Wunsch nach Nähe, Zärtlichkeit und Bestätigung ist genauso stark wie die Angst davor. Fremdgehen wird damit zu einem Versuch, das Bedürfnis nach Intimität auf eine Art zu stillen,
die keine Gefahr birgt.

Doch es bleibt oberflächlich. Anstatt echte Nähe zu erleben, bleibt alles auf der körperlichen Ebene stehen. Die tiefe Leere im Inneren wird dadurch nicht gefüllt.
Im Gegenteil: Je öfter der Vermeider diesen Weg geht, desto stärker verfestigt sich das Muster, desto größer wird die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Realität.

6. Missverständnisse von außen

Viele Menschen, die von außen auf einen promiskuitiven Vermeider blicken, urteilen hart. Sie sehen Egoismus, Rücksichtslosigkeit, manchmal auch Bosheit. Doch diese Deutung greift zu kurz.
Das Verhalten ist kein Ausdruck bewusster Gemeinheit, sondern das Ergebnis eines unbewussten Schutzprogramms.

Das heißt nicht, dass es entschuldbar wäre. Die Verletzungen, die ein Vermeider seinem Partner zufügt, sind real und tief. Aber es erklärt, warum ein Mensch so handelt, obwohl er möglicherweise seinen Partner liebt.

7. Heilung – Kann ein Vermeider treu sein?

Die entscheidende Frage ist: Können Vermeider lernen, treu zu sein? Die Antwort lautet ja – aber der Weg dorthin ist anspruchsvoll.
Es erfordert, dass der Vermeider sich seiner eigenen Dynamik bewusst wird. Er muss verstehen, dass Fremdgehen kein Ausdruck von Freiheit ist, sondern ein Ausweichen vor echter Intimität.

Therapie kann helfen, alte Verletzungen aus der Kindheit zu heilen, die Nähe so bedrohlich erscheinen lassen. Ebenso wichtig ist es, Schritt für Schritt zu üben, verletzlich zu sein: Gefühle zu teilen, Bedürfnisse auszusprechen, sich nicht sofort zurückzuziehen, wenn es eng wird.

Auch der Partner spielt eine Rolle. Ein Partner, der Sicherheit vermittelt, klare Grenzen setzt, aber nicht klammert, kann dem Vermeider helfen, langsam Vertrauen zu entwickeln. Treue entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch innere Reifung.

8. Was Partner wissen sollten

Wenn du selbst in einer Beziehung mit einem Vermeider bist, der fremdgegangen ist, bedeutet das zunächst Schmerz. Doch es lohnt sich, die Dynamik genauer anzuschauen. Oft geht es nicht um fehlende Liebe, sondern um Angst.

Das heißt nicht, dass du alles hinnehmen musst. Im Gegenteil: Es ist wichtig, klare Grenzen zu ziehen und deine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Du musst für dich prüfen, ob du bereit bist, diesen Weg mitzugehen, ob dein Partner zur Reflexion bereit ist – oder ob es für dich gesünder ist, dich zu lösen.

Fazit

Promiskuität beim vermeidenden Bindungsstil ist kein Ausdruck von Bindungslosigkeit, sondern von einem tiefen inneren Konflikt. Fremdgehen fällt Vermeidern leichter, weil es ihnen erlaubt, Nähe in einer Form zu erleben, die oberflächlich und kontrollierbar bleibt. Für den Partner ist das schmerzhaft, oft zerstörerisch – und doch hilft das Verständnis für die Mechanismen, klarere Entscheidungen für sich selbst zu treffen.

Weiterführende Literatur und Links

  • Bowlby, J.: Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung

  • Levine, A. & Heller, R.: Attached – The New Science of Adult Attachment

  • Johnson, S.: Hold Me Tight

  • Blogartikel auf www.der-vermeidende-bindungsstil.de zu verwandten Themen:

    • Emotionale Unverfügbarkeit

    • Nähe-Distanz-Dynamik

    • Bindungsangst und Partnerschaft

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